Mizuki Tsujimura: Lonely Castle in the Mirror

Seit Anfang des Jahres habe ich über dreißig Bücher gelesen, und die meisten von ihnen waren auf Englisch. Ich bevorzuge Bücher im Original gegenüber Übersetzungen, aber das funktioniert natürlich nur dann, wenn ich in der Lage bin, die Originalsprache zu verstehen, und das schränkt meinen Lesehorizont doch ziemlich ein. Es gibt so viel mehr Sprachen, in denen Bücher geschrieben werden als nur Deutsch und Englisch, und es ist gut, dass es Übersetzer:innen gibt, auch wenn immer noch der größte Teil dessen, was dann auf Deutsch erscheint, aus dem Englischen übersetzt wird, was ich auch so lesen kann. Aber Lonely Castle in the Mirror ist, trotz des englischen Titels, ein Buch auf Deutsch, und mit seiner Originalfassung wäre ich nicht weit gekommen – da heißt das Buch Kagami no Kojō, und Japanisch ist eine Sprache, in der ich wirklich keine Bücher lesen kann. Gesprochen verstehe ich tatsächlich drei Brocken, aus der Zeit, als ich wirklich viele Anime geschaut habe, aber mit drei Brocken kommt man nicht weit, erst recht, wenn man die Schrift nicht beherrscht.

Tatsächlich war das wohl der erste aus dem japanischen übersetzte Roman, den ich jemals gelesen habe. Vor gut zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, als ich auch meine Anime-Phase hatte, habe ich auch eine Menge Manga konsumiert, aber eben noch keine Romane, noch nicht einmal einen Murakami, und nun war es an der Zeit, dieses Defizit anzugehen. Ich hätte Lonely Castle in the Mirror auch als Manga-Adaption lesen können, oder mir die Anime-Fassung anschauen, aber der Roman ist nicht das Buch zum Film, sondern die Vorlage für beides, und ohne wirklich zu wissen, was mich da erwartet, habe ich mir den Roman gekauft, der in der Übersetzung von Ruben Grest im Hayabusa Verlag erschienen ist.

Grest übersetzt ansonsten überwiegend Manga, und Hayabusa ist ein Imprint des Carlsen Verlags, in dem sonst überwiegend Manga erscheinen, und tatsächlich fand ich es schwer, dieses Buch zu lesen, ohne dabei an Manga denken zu müssen. Es ist sprachlich extrem einfach gehalten, und ich hatte keine Möglichkeit zu beurteilen, ob das an der Übersetzung liegt oder ob auch das japanische Original so geschrieben ist. Aber das hat dazu geführt, dass ich durch das ordentlich dicke Buch – mehr als 450 Seiten hat die deutsche Ausgabe – nur so durchgeflogen bin und in wenigen Tagen mit der Lektüre durch war.

Ich bevorzuge Bücher, die sprachlich ein bisschen komplexer sind, ein bisschen schöner geschrieben, als das hier der Fall war, und das gilt auch für Kinder- und Jugendbücher. Aber hier hat mich das eigentlich kaum gestört – und es ist schön, wenn ein Buch mit einem durchaus anspruchsvollen Thema leicht zu erschließen ist und es seinen jugendlichen Leser:innen nicht unnötig schwer macht. Und anspruchsvoll ist die Geschichte von Lonely Castle in the Mirror durchaus. In dem titelgebenden Schloss, das hinter den Spiegeln liegt, treffen sich sieben Jugendliche, die, so unterschiedlich sie auch sind, alle durch eine Tatsache verbunden sind: Sie gehen nicht zur Schule.

Ihre Gründe sind verschieden. Kokoro, die Hauptfigur, verkriecht sich in ihrem Zimmer, weil sie nach dem Wechsel zur Mittelschule so starkem Mobbing ausgesetzt war, dass sie schon bei dem Gedanken, dort wieder hinzumüssen, Bauchschmerzen bekommt. Ich kann das zu gut nachvollziehen, ich bin auch übel gemobbt worden, auch wenn in meinem Fall nie eine Rotte von Mitschülerinnen vor meinem Haus gestanden hat und geschrien hat, mich umbringen zu wollen, wie das bei Kokoro der Fall war. Aber auch ich hatte einen hohen Krankenstand, nicht, weil ich wirklich so kränklich gewesen wäre, sondern weil ich Fieberschübe bekommen habe, nur um nicht in den Unterricht zu müssen.

Das ist jetzt gut und gern fünfunddreißig Jahre her, und die Narben von damals sind irgendwann verheilt – und doch hat mich dieses Buch in einer Situation erwischt, die Korkoros nicht zu unähnlich ist und ist mir damit stellenweise mehr unter die Haut gegangen, als mir lieb war. So schonungslos und realistisch beschreibt Tsujimura die Symptome einer Panikattacke, als Kokoro doch einmal versucht, das Haus zu verlassen, dass ich schon von Lesen fast eine bekommen habe. Seit mehr als einem Jahr habe ich selbst größte Probleme, vor die Tür zu gehen, selbst der Briefkasten ist an den meisten Tagen unerreichbar fern, und ich schließe mich von der Außenwelt weg, weil ich es einfach nicht raus schaffe. In meinem Haus fängt nicht plötzlich der Spiegel an zu leuchten und nimmt mich mit in ein verzaubertes Schloss. Aber immerhin habe ich meinen Ehemann, und das Internet als Fenster zur Außenwelt.

Die anderen Jugendlichen, die Kokoro hinter dem Spiegel trifft, haben ebenfalls ihr Päckchen zu tragen, sei es durch Vernachlässigung, Überforderung, Trauer, Depressionen – es gibt viele Gründe, warum ein Kind nicht mehr zur Schule geht, und in einem Land wie Japan, in dem schon bei der Aufnahmeprüfung für den Kindergarten Druck aufgebaut wird, ist das Problem schon seit Jahrzehnten bekannt. Kinder, die durch das Raster fallen, müssen sehen, wo sie abbleiben – und wenn sie den Stoff nicht schaffen und am Ende das Jahr wiederholen müssen, ist damit ein Stigma verbunden, mit das mit dem Sitzenbleiben in Deutschland nicht vergleichbar ist. Für Kokoro gibt es eine Alternative, ihre Eltern haben eine freie Schule aufgetan, in die sie gehen könnte, die Lehrerin ist nett und verständnisvoll, aber sie schafft es einfach nicht, zu sehr hat ihre Angst sie im Griff.

Auch als Kokoro im Schloss im Spiegel landet, ist ihr erster Gedanke Flucht, vor allem, da ihre erste Begegnung dort ein ziemlich gruseliges kleines Mädchen mit Wolfsmaske ist, das sie herumzukommandieren versucht – erst im zweiten Anlauf wagt sie sich zurück und hört sich an, was ihr und den anderen dort angeboten wird: Ein verborgenes Zimmer, der Schlüssel dazu irgendwo im Schloss versteckt, und wer dort hingelangt, dem wird ein Wunsch erfüllt. Und Wünsche haben sie alle. Für Kokoro verlockend erscheint die Vorstellung, ihre Peinigerin aus der Welt verschwinden zu lassen, und so lässt auch sie sich auf das Angebot ein. Ein ganzes Jahr haben die sieben Auserwählten Zeit, den Schlüssel zu finden, jeden Tag können sie ins Schloss, aber abends müssen sie zurück nach Hause, sonst kommt der böse Wolf und frisst sie auf. Was sie ansonsten mit ihrer Zeit machen, und wie sie miteinander interagieren, ist ihnen überlassen.

Es wäre zu viel gesagt, dass die sieben Jugendlichen – vier Jungen und drei Mädchen – sofort die engsten Freund:innen werden. Sie verbringen ihre Zeit im Schloss mehr mit Smalltalk, leben nebeneinander her, und brauchen lange, um aufzutauen und sich gegenüber den anderen zu öffnen. Auch Kokoro spricht mit niemandem über das Mobbing – sie hat noch nicht einmal ihren Eltern davon erzählt, geschweige denn den Klassenlehrer eingeweiht, und auch im Schloss hält sie lange, wahrscheinlich zu lange, mit ihren Problemen hinter dem Berg, und für die anderen gilt das gleiche.

Ich hatte mit einer wilden Schnitzeljagd gerechnet, damit, dass nach und nach alle Räume des Schlosses durchsucht werden und nach und nach die Hinweise zusammengetragen, wo der Schlüssel zu finden ist, aber tatsächlich verbringen sie sehr wenig Zeit damit, nach dem Schlüssel zu suchen. Sie alle nehmen das Schloss als Fluchtpunkt und Rückzugsort, nutzen das Jahr aus, das ihnen dort vergönnt ist – schließlich wird nur eine oder einer von ihnen seinen Wunsch erfüllt bekommen, und die anderen werden leer ausgehen. Da wollen sie zumindest so viel von der Sicherheit, die ihnen das Schloss vor ihren verschiedenen Problemen bietet, ausnutzen. Dass sie sich gegenseitig helfen könnten, diese Probleme zu überwinden, auf den Gedanken kommen sie nicht – wie auch, sie reden ja nicht richtig miteinander. Aber nach und nach kommt die Sache doch in Bewegung.

Es gibt ein paar Plotwendungen in der Geschichte, die ich hier nicht näher ausbreiten möchte, um niemandem den Spaß zu vermiesen, auch wenn ich sagen muss, dass ich alles ziemlich vorhersehbar fand – es ist eine gut konstruierte Geschichte, aber wenn man die Hinweise, die großzügig durch das ganze Buch verstreut sind, richtig kombiniert, ist die vermeintlich überraschende Eröffnung gegen Ende wirklich keine Überraschung mehr. Enttäuscht hat mich das nicht, und ich denke auch, dass die Zielgruppe von zwölf- bis vierzehnjährigen Jugendlichen nicht wie ich an ein Buch herangeht mit der Frage »Wie würde es jetzt weitergehen, wenn ich dieses Buch geschrieben hätte?«, und daher denke ich, dass der Schluss für die meisten Leser:innen doch eher unerwartet daherkommen wird.

Trotz seiner phantastischen Prämissen mit dem Schloss hinter den Spiegeln, trotz vieler märchenhafter Elemente hatte ich nicht das Gefühl, einen Fantasyroman zu lesen. Es ist ein ernstes, über weite Strecken realistisches Buch, das sich einiger phantastischer Elemente bedient, um seine Geschichte zu erzählen. Das Ende war vielleicht ein bisschen verkitscht, der Showndown unnötig actiongeladen nach dem langsam erzählten Buch, aber alles in allem muss ich sagen, dass mir dieses Buch wirklich gut gefallen hat, auch wenn ich mich darin besser wiederfinden konnte, als mir gerade lieb sein kann. Und so wollte ich mir, nach erfolgter Lektüre, dann auch die Anime-Verfilmung davon anschaffen, nur um festzustellen, dass sie auf dem deutschen Markt noch gar nicht verfügbar ist. Der Film soll Anfang Juni im Kino anlaufen, und bis ich ihn mir dann auf Blueray kaufen kann – nichts gegen Streaming, aber ich ziehe es immer noch vor, meine Filme zu besitzen – wird es noch ein paar Monate hin sein. Ins Kino werde ich es in meinem derzeitigen Zustand sicher nicht schaffen, und das ist schade. Aber zumindest den Trailer konnte ich schon sehen, und es scheint eine gute, werkgetreue Verfilmung zu sein. Ich freue mich darauf, das irgendwann mal anschauen zu können.

Bis dahin habe ich ein Buch, das ich gerne weiterempfehle, geeignet für Jugendliche und Erwachsene. Aber für Leute, die wie ich eine Mobbing-Vergangenheit haben, gibt es eine kleine Warnung: Hier können alte Narben aufbrechen. Wer sich darauf einlässt, wird belohnt mit einem interessanten, psychologisch dichten Buch, von dem man noch lange zehren kann.

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