Neal Shusterman: Scythe

In den letzten Wochen habe ich gelesen, als wären meine Bücher Matrjoschkas, russische Puppen-in-der-Puppe: Ich habe eines angefangen, bis zu einer gewissen Stelle gelesen, das nächste angefangen, bis zu einer gewissen Stelle gelesen, und dann das nächste angefangen, bis mir buchstäblich die Lesezeichen ausgegangen sind vor angelesenen Büchern. Nur das letzte habe ich, im Verlauf einer guten Woche, dann tatsächlich am Stück gelesen, ohne mich mit anderen Büchern zu unterbrechen, und wenn ein Buch meinen derzeit so wankelmütigen Verstand derart mit Beschlag belegen kann, dann wird das wohl ein spannendes Buch gewesen sein. Und das ist das Mindeste, was ich über Neal Shustermans Scythe sagen kann: Es ist fesselnd geschrieben und lässt sich, trotz einer Länge von rund 450 Seiten, gut und schnell lesen.

Tatsächlich kann ich noch mehr positive Sachen über dieses Buch sagen, und auch wenn ich zwischendurch Momente hatte, während derer ich es beherzt gegen die Wand schmeißen wollte, hat es am Ende die Kurve bekommen, und das gut genug, dass ich jetzt auch den zweiten Band der Trilogie lesen möchte. Nicht unbedingt sofort – vorher will ich all die angebissenen Bücher zu Ende lesen, die sich neben meinem Bett stapeln und bei denen mir oft nur noch hundert Seiten fehlen. Aber dann, wenn ich mir wieder erlaube, neue Bücher zu kaufen, will ich nach vielen Reihen, die mich nicht überzeugen konnten, endlich mal wieder einen Mehrteiler weiterlesen.

Scythe – das auf Deutsch unter dem Titel Scythe – die Hüter des Todes – erschienen ist, ist ein Jugendroman, der tückischerweise so tut, als würde er sich um eine Utopie handeln, in Wirklichkeit aber zutiefst dystopisch daherkommt. In einer nicht näher bezeichneten Zukunft haben die Menschen aufgehört, die Jahre zu nummerieren, und nennen sie lieber nach Tieren. Zeit ist bedeutungslos geworden, das Streben nach Fortschritt spielt keine Rolle mehr, weil die Menschen alles erreicht haben, was sie jemals erreichen wollten: Hunger, Kriege und Kriminalität sind besiegt, Länder, Religion und Regierungen sind obsolet, eine gütige KI über die ganze Welt herrscht, und auch der Tod wurde überwunden, seit das Alter zurückgedreht werden kann und tot-ische Leute schnell und einfach wiederbelebt werden können.

Im postmortalen Zeitalter haben die Menschen vieles dessen verloren, was sie einmal zu Menschen gemacht hat. Kunst kann noch in Museen bewundert werden, Opern werden noch aufgeführt, aber nicht mehr verstanden, und der Drang, sie zu erschaffen, ist dahin – wo ist das Ziehen und Flehen, seit man nicht mehr gegen die eigene Sterblichkeit ankämpfen muss, und wo Depressionen und andere psychische Erkrankungen wie alle anderen Krankheiten ein Ding der Vergangenheit sind, weil maßgeschneiderte Naniten, die jeder Mensch im Körper hat, nicht nur alle Schmerzen unterdrücken, sondern auch dafür sorgen, dass immer genau die richtige Menge an Dopamin, Serotonin und Co. ausgeschüttet werden, ist auch das Manische, das Künstler unserer Gegenwart angetrieben hat, ein Ding der Vergangenheit.

Eigentlich müssten die Leute vor lauter Langeweile sterben – nur, sie sterben ja nicht mehr. Auch wenn sich manche Jugendliche von immer höheren Gebäuden stürzen, um den Thrill des Aufschlags mitzunehmen und das leckere Eis im Wiederbelebungscenter zu genießen, spielt das Ableben oder die Angst davor im Alltag keine Rolle mehr. Dabei wird immer noch gestorben, und hier ist eine der Sachen, wo das Buch ein bisschen unlogisch ist: Da niemand wissen kann, wann – oder auch nur ob – er oder sie sterben wird, sollte eine Grundangst vor dem Tod doch noch geblieben sein, gerade groß genug, um noch Künstler inspirieren zu können, denn auch heute sind die nicht den ganzen Tag lang damit beschäftigt, ihr drohendes Ableben zu kontemplieren. Aber in der Zukunft, in der Scythe spielt,  ist die Angst vor dem Tod eliminiert, auch wenn wirklich niemand sterben will.

Der Tod liegt in der Hand sogenannter Scythes – ich würde das jetzt mit Sensen übersetzen, aber der Klappentext der deutschen Ausgabe verrät mir, dass die den Begriff so übernommen haben, wie er ist: Fachpersonal für Todesangelegenheiten, das über dem Gesetz steht, nicht von der KI überwacht sind, sondern als ein sich selbst regulierender Todesapparat fungiert. Sie töten gerade genug Leute, dass die Überbevölkerung nicht zum Problem wird, erfüllen brav ihre Quoten von fünf Ableben pro Woche, und sind natürlich im Großen und Ganzen ein machtbesoffener, korrumpierter Sauhaufen, der es genießt, Gott spielen zu können.

Natürlich gibt es immer noch anständige Scythes, die Gewissenhaft operieren, die sich ihre Opfer vorurteilsfrei allein auf Basis ihrer statistischen Sterbewahrscheinlichkeit zur mortalen Zeiten raussuchen oder nach jenen Ausschau halten, die so aussehen, als hätten sie ihren Funken verloren – aber auffälliger sind Leute wie Scythe Goddard, der mit seinen Anhängern spektakuläre Massenhinrichtungen veranstaltet und auf blutdurstigen Todesfeldzügen niedermetzelt, was auch immer ihnen gerade vor Flinte/Klinge/Flammenwerfer kommt. Angeblich soll Goddard ein Charisma haben, dem sich niemand entziehen kann, aber wirklich, mir ist lange in keinem Buch mehr so ein Widerling begegnet, und die Szenen, die sich um ihn drehen, fand ich so überzogen, dass sie allen Realismus eingebüßt haben und das Buch zu seiner eigenen Parodie haben abdriften lassen.

Im Mittelpunkt der Geschichte – und wahrscheinlich der ganzen Trilogie – stehen zwei anfänglich sechzehnjährige Jugendliche, Citra und Rowan, die von Scythe Faraday, einem ethischen Schnitter der alten Schule, als Azubis angenommen werden – quasi ein ähnliches Setting wie im Grimm‘schen Märchen vom Gevatter Tod oder Terry Pratchetts Roman Mort. Die beiden Teenager sind Faraday als Kandidaten ins Auge gesprungen, indem sie sich durch besondere Integrität angesichts (fremden) Todes ausgezeichnet haben, und beide haben miteinander gemeinsam, dass sie wirklich keine Scythe werden, niemandem umbringen wollen – und da hilft es auch nicht, dass man in einem Anflug von Neusprech nicht mehr vom Umbringen spricht, sondern auf das schöne alte Wort »gleaning«, wörtlich: auflesen, ausgewichen ist. Tot ist tot, mehr als nur tot-isch, und niemand von beiden möchte andere Menschen auf dem Gewissen haben.

Eine Wahl haben sie aber nicht, und die Aussicht, dass ihre unmittelbaren Familien im Gegenzug mit Todesimmunität ausgestattet werden, ist auch eine Menge wert, und so machen sie sich daran, das Handwerk des Tötens von der Pike auf zu erlernen. Zu den wenigen Regeln, denen eine Scythe sich unterwerfen muss – und die für Leute wie Goddard mehr unverbindliche Empfehlungen, die man gern so weit wie möglich auszulegen darf, sind – gehört, dass sich eine Scythe niemals verlieben darf, bzw. zumindest keine Liebesbeziehungen eingehen, und da habe ich als Leser schon das Schlimmste gefürchtet. Ich hatte Angst, das Buch würde von seiner interessanten ethischen Basis wegdriften und zu einer Teenieromanze verkommen, in deren Mittelpunkt steht, dass sie sich nicht haben dürfen – aber da habe ich mir unnötig Sorgen gemacht.

Das bisschen Romantik, das man in diesem Buch serviert bekommt, lässt sich leicht wegstecken und bietet nur eine Grundlage für andere moralische Dilemmata, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Faraday nicht nur einen, sondern zwei Azubis aufgenommen hat und nur eine:r der beiden am Ende selbst eine Scythe werden kann. Was folgt, ist ein dramatischer, actiongeladener und stellenweise herzzerreißender Ritt durch die Abgründe, die eine perfekte Zukunft mit sich bringt, und wie es sich für ordentliche Science Fiction gehört, stehen die ethisch-moralischen Fragen im Mittelpunkt. Zwischendurch drohte das Buch abzudriften, sich in übertriebenen Gewaltexzessen zu verlieren und an Figuren wie Goddard und seine Minions, die so überzogen daherkommen, dass sie wie Schießbudenfiguren wirken, aber am Ende hat sich das Buch wirklich wieder gefangen, der Schluss war gut gemacht und intelligent und nicht zu vorhersehbar, auch wenn ich andere Aspekte der Geschichte korrekt habe kommen sehen.

Aber ein gutgemachter Schluss ist die halbe Miete, und da hat man Shusterman seine Erfahrung angemerkt. Der Mann hat über dreißig Bücher geschrieben, viele davon preisgekrönt, und auch Scythe ist mit diversen Auszeichnungen versehen worden. Auch eine Verfilmung ist angekündigt, aber das wohl schon länger und ohne nennenswerte Bewegung, und nach Jahren der Planung hängt man immer noch an der Frage, wer das Drehbuch schreiben soll, ist noch nicht bei der Besetzung angekommen, und dass mir das Scythe-eigene Wiki erzählt, dass Meryl Streep und Sir Ian McKellen Shustermans Wunschbesetzungen für die ehrwürdigen Scythes Curie und Faraday sind, klingt mehr wie Wunschdenken als wie eine realistische Prognose. Dann wieder weiß ich nicht, was für ein Budget das Projekt hat. Scythe ist jedenfalls ein Buch, das sich zigmal verkauft hat, der erste Band hat auf Goodreads über 300.000 Bewertungen, und auch wenn man dafür das Buch nicht gekauft oder auch nur gelesen haben muss, ist das schon mal eine Hausnummer.

Nur stellenweise hatte ich das Gefühl, dass Shusterman vielleicht ein bisschen zu routiniert ist, zu berechnend weiß, was er tut und wie man mit den Gefühlen der Leser:innen spielt. Meine erklärte Abneigung gegen Scythe Goddard war sicherlich genau so beabsichtigt, das Buch möchte ganz und gat sichergehen, dass die Lesenden, vor allem die Jugendlichen darunter, die Moral des Buches mitnehmen und auf der richtigen Seite stehen – und nicht selbst denken, dass eine Quote die Scythes nur einschränkt und die Welt ein besserer Ort wäre, wenn die munter niedermähen dürften, wen und wie viele immer sie wollen. Dass so ein brachiales Abschlachten, wie es im Buch wieder und Wieder zelebriert wird, nicht die Antwort ist, liegt auf der Hand – für mich war aber stellenweise fraglich, für welche Altersgruppe dieses Buch geschrieben ist, stellenweise war es mir doch deutlich zu brutal für die Dreizehn-, Vierzehnjährigen, die sonst die Bücher mit sechzehnjährigen Protagonisten lesen.

Ich würde dieses Buch daher primär an Erwachsene empfehlen. Selbst gehe ich auf die fünfzig zu, und ich denke nicht, dass ich selbst von diesem Buch Schaden genommen habe. Anderes an Scythe, wie die moralische Schwarzweißmalerei, die sich immer wieder durch die Geschichte zieht, scheint sich dann doch eher an Teenager zu richten: Erwachsenen traut man eher zu, sich ihr eigenes Bild zu machen, ihr eigenes Urteil zu fällen, und da bringt Scythe durchaus einiges an interessantem Diskussionspotenzial mit. Vieles davon wird in diesem Buch noch nicht einmal angerissen, und insofern bin ich gespannt, wie es in den späteren Bänden der Reihe weitergeht. Vor allem um die Frage, ob die gütige KI Thunderhead wirklich so freundlich und hilfsbereit ist, wie sie sich im ersten Teil gebärdet. Da der zweite Band den Titel Thunderhead trägt, werden wir da wohl mehr erfahren, aber ich habe die Klappentexte nicht gelesen – ich will mich nicht spoilern.

Für mich steht jedenfalls fest, dass ich die geschilderte Zukunft ganz und gar gruselig finde. Und dabei hadere ich oft mit meiner eigenen Sterblichkeit. Aber sie für so etwas, wie hier geschildert wird, einzutauschen, das möchte ich auch wieder nicht. Nur – seit dieses Buch 2016 veröffentlicht worden ist, hat sich viel in der Welt getan, und KIs haben sich beängstigend weiterentwickelt. Ich sehe sie noch nicht die Weltherrschaft übernehmen, aber sie machen auf absehbare Zeit Kunstschaffende, und dazu zähle ich auch mich, arbeitslos. Diese Entwicklungen, dass die KIs malen, schreiben und komponieren, während die lebenden Menschen die niederen Arbeiten verrichten, hat Shusterman nicht vorhergesehen. Und insofern hoffe ich, dass sich auch der Rest des Buches als nicht zu prophetisch entpuppen wird.

Von mir gibt es jedenfalls eine Leseempfehlung. Wenn man nicht zu zartbesaitet ist, wenn man gerade bereit ist, sich mit dem Thema der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Es lohnt sich. Und auch wenn das Buch im Mittelteil schwächelt – der Schluss reißt es, zumindest für mich, wieder raus.

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