Das ist das erste Buch, das ich seit sehr langer Zeit lese. Es ist nicht besonders dick, daher schien es mir für den Wiedereinstieg ganz passend. Es ist mir durch Zufall in die Finger gekommen, aber ich hatte schon früher von diesem Buch gehört: In einer Folge der Krimiserie Monk gibt sich der Mörder als Journalist aus und erzählt, er habe einen bedeutenden Preis für eine Reportage bekommen, bei der er nach einem Brückeneinsturz in Peru die Lebensgeschichten der Opfer mit Akribie recherchiert habe. Doch Mr. Monk erkennt darin den Inhalt des Buches Die Brücke von San Luis Rey, durchschaut den Mann als Lügner und infolge dessen natürlich auch als Mörder.
Schon damals – vor ca. zwei Jahren – dachte ich: Interessantes Buch, musst du bei Gelegenheit mal lesen – und verwarf den Gedanken wieder, wie die meisten, die mit Lesen zu tun hatten. Später empfahl mir mein Vater dieses Buch – er hatte es als Schüler als Lektüre im Englischunterricht lesen müssen und war davon angetan, und wenn man das über eine Schullektüre sagen kann, scheint es sich wirklich um ein gelungenes Buch zu halten.
Jedenfalls, als ich es nun in der Bücherei, in der ich zurzeit ein Praktikum mache, in die Finger bekam, habe ich es kurzentschlossen ausgeliehen und mich auch umgehend an die Lektüre gemacht.
The Bridge of San Luis Rey ist ein großartiges Buch, von der Sorte, wie es sie auf der Welt nur einmal geben kann und darf. Der Plot klingt spektakulär: Eine alte Inka-Hängebrücke stürzt ein und reißt fünf Menschen in den Tod. Was hätte man da nicht alles draus machen können!
a) Ein Lost-Szenario: Wie durch ein Wunder überleben alle fünf, sind jedoch am Boden einer tiefen Schlucht gefangen und wissen nicht, wie sie jemals herauskommen sollen. Hunger und Knochenbrüche überschatten die zarte Romanze zwischen Esteban und Perdita…
b) Ein Stargate-Szenario: Hat ein Fluch der alten Inka-Götter die Brücke zum Einsturz gebracht? Und warum findet man nirgendwo die Leichen der fünf Opfer?
c) ein CSI-Szenario: Unfall, Selbstmord oder Mord – warum brach die Brücke genau in diesem Moment? Bruder Juniper und sein Team von Spezialisten übernehmen die Ermittlungen..
Aber nichts von alledem schreibt Thornton Wilder. Und darum hat The Bridge of San Luis Rey 1928 den Pulitzerpreis bekommen.
Das Buch ist überhaupt nicht spannend. Dass die Brücke einstürzt, wissen wir schon auf der ersten Seite, sogar schon nach dem ersten Satz. Ebenso, dass sie fünf Menschen in den Tod reißt. Und wenn im weiteren Verlauf die Biographien der fünf Unglücklichen erzählt werden, so ist auch hier das Ende schon bekannt – sie sterben, als die Brücke einstürzt. Auch der Stil trägt nicht viel zur Spannungsbildung bei: Wilder erzählt nicht die Geschichte – Wilder erzählt von der Geschichte. Das ist ein Unterschied. Und moderne Lektoren würden dem Mann das Buch wohl um die Ohren hauen.
Aber The Bridge of San Luis Rey ist das einzige Buch seiner Art, und das ist gut, denn ein Vergleichbares wäre nur ein müder Abklatsch. Dieses Buch ist perfekt. Wirklich perfekt. Es ist nicht spannend. Aber es ist fesselnd. Wilder jongliert mit den Ebenen dieses Buches so meisterlich, dass ich weinen muss. Es geht um einen Brückeneinsturz. Es geht um die fünf Opfer. Es geht um den Franziskanerbruder, der die Leben dieser Fünf minutiös recherchiert – aber das alles ist nur der Rahmen, nicht das Bild. Es geht um einen Gottesbeweis.
Jeder kann Gott suchen und finden, wo er will und lustig ist. Ich habe Gott in einem Heliumkern gefunden. Aber der allgemeingültige Beweis ist das für die allermeisten nicht. Bruder Juniper wählt einen anderen Weg: Wenn er aufzeigen kann, dass genau diese Fünf in genau diesem Moment auf genau diese Weise starben, weil es der Wille Gottes war – dann ist Gott bewiesen. Dass Bruder Juniper damit scheitert, erfahren wir Leser auf den ersten Seiten. Aber Wilder präsentiert uns alle Fakten, nüchtern nacherzählt wie die Indizien in einem Mordprozess. Bruder Juniper ist egal. Nur eine Nebenfigur. Der Leser ist das und der Entscheidende.
Und wie die fünf Einzelschicksale zusammenhängen, wie sich die Wege der Fünf immer wieder beiläufig kreuzen – nicht unwahrscheinlich, Lima um 1790 ist weit davon entfernt, eine Millionenstadt zu sein – ist grandios. Die Menschenkenntnis, die Psychologie hinter den Biographien – vorbildlich. Dieses Buch hat alles. Es ist ein Muss für jeden, der liest. Ein unmögliches Buch. Fängt mit dem Ende an und erzählt sich rückwärts. Ein Meisterwerk. Und wer zehn Jahre nichts gelesen hat – und wer im Leben noch nichts gelesen hat – der sollte mit diesem Buch anfangen. Und mit keinem anderen.