Kein Buch aus der Bücherei, und keines, das ich zum ersten Mal lese – nein, es ist mein eigenes, und es ist mindestens das dritte Mal und ganz sicher nicht das letzte. Beim ersten Mal war ich fünfzehn und das Buch aus der Bücherei. Beim zweiten Mal war ich zwanzig und hatte das Buch passenderweise auf dem Flohmarkt der Heilsarmee erstanden. Und jetzt hatte ich einfach wieder Lust darauf. Es ist ein tolles Buch. Ich brauchte ein tolles Buch. Das Gemini-Projekt hatte zuviel von meiner positiven Leseenergie aufgebraucht. Da mußte etwas Bewährtes her. Und als ich im Internet durch Zufall auf die Anime-Verfilmung von Daddy Longlegs stieß, bekam ist plötzlich wieder Lust, dieses Buch zu lesen. Und fand mich wenige Minuten später im Wohnzimmer wieder, die Beine hochgelegt, eine Decke über den Knien und diese Blüte der amerikanischen Mädchenliteratur in Händen. Und las, und las, und genoß wie damals und damals.
Dem Genre »Mädchenbuch« haftet irgendwie etwas Negatives an, als ob kein männliches Wesen jemals an einem dieser Bücher Gefallen finden könnte, es impliziert etwas Abgedroschenes, Schmonzettiges – als wäre es nur ein kleiner Schritt vom Mädchenbuch hin zu Rosamunde Pilcher und dem Echo der Frau. Ich verwende den Betriff jedoch weder ab- noch aufwertend für eine Untergruppe des Adoleszenzromans, in dem sich junge Frauen ihren Platz in der Gesellschaft schaffen. Und der ist nicht immer da, wo die zeitgenössischen Konventionen ihn gerne gesehen hätten. Vor allem in diesem Buch.
1912 erschienen, fällt Daddy Long-Legs in die gleiche Epoche wie Anne of Green Gables-Reihe, deren erster Band 1908 erschien. Beide Heldinnen verbindet ein ähnliches Schicksal: Sie sind mittellose, aber intelligente und literarische begabte Waisenmädchen, denen das Glück höherer Bildung zufällt – der einen, Anne, durch ehrliche und harte Arbeit, der anderen durch einen geheimnisvollen Gönner. Beide meistern ihr Schicksal mit Witz und Phantasie und müssen erkennen, dass der schriftstellerische Ruhm nicht mit abgehobenen Epen zu erreichen ist, sondern durch die lebendigen kleinen Schilderungen des Alltags. Und natürlich werden beide im Laufe der Handlung mit einem liebenden Ehemann versehen. Während aber Annes Geschichten zunehmend verkitschen und immer weniger Lesefreude bereiten, je mehr die Heldin in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter aufgeht, beschränken sich die Abenteuer der Jerusha Abbot auf jene vier Collegejahre, die ihr Leben auf den Kopf stellen sollten.
Im Jahr 1912 ist eine Hochschuldausbildung für Mädchen keine Selbstverständlichkeit, und für Waisenkinder ganz und gar utopisch. Jerusha ist siebzehn Jahre alt, und ihr Leben besteht aus blauen Kattunkleidern, einer Einheitszopffrisur und der Aussicht auf eine Zukunft als Hausangestellte: Gnädigerweise hat man sie aufgrund überragender sprachlicher Leistungen zumindest die Schule bis zum Ende besuchen lassen, aber damit ist alle Gnade auch schon ausgereizt: Das Findelkind, das für alles dankbar sein soll, den von einem Grabstein abgeschriebenen Namen eingeschlossen, ist zu alt fürs Waisenhaus.
Doch ihr Talent und ihre Frechheit retten sie: Einem Aufsichtsrat gefällt ausgerechnet ein satirischer Aufsatz, den Jerusha über das Aufhebens um den monatlichen Besuch der Aufsichtsräte geschrieben hat, und er verspricht, ihr das College zu finanzieren, damit sie dort zu einer wortgewandten Autorin werden will. Der verschrobene und mutmaßlich alte Mann knüpft nur zwei Bedingungen daran: Dass er anonym bleibt, und dass Jerusha ihm monatlich einen Brief schreibt, in dem sie ihm von ihren Fortschritten berichtet.
Und nach dieser prosaischen Einführung wird das Buch als Briefroman fortgesetzt. Man muss sich fragen, warum die Autorin nicht direkt mit Jerushas Briefen beginnt, denn so ist doch ein kleiner Bruch in Form und Stil zu bemängeln. Aber nach den ersten paar Briefen ist das vergessen; so erfrischend ist der Stil der Vorzugswaise. Unverblümt berichtet sie vom amerikanischen Collegealltag, von ihren Freundinnen Sallie und Julia und von Julias bezauberndem jungen Onkel Jervis – und natürlich ahnt der Leser sofort, was Jerusha selbst erst auf den letzten Seiten erfährt: Dass nämlich Jervis Pendleton nicht nur ihr Manns fürs Leben ist, sondern natürlich auch der geheimnisvolle Sponsor. Aber dass die Geschichte komplett voraussehbar ist, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch.
Aber der amüsante Stil und die eingestreuten witzigen kleinen Zeichnungen ändern nichts daran, dass dies eine Geschichte mit Tiefgang ist. Immer wieder fühlt sich Jerusha wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft höherer Töchter, und auch wenn sie ihren Namen kurzerhand in Judy umändert, wird sie ihre Vergangenheit und das John Grier Heim niemals wirklich los. Schmerzlich rührend die Szenen, in denen sie sich quer durch die Collegebibliothek liest, um anhand literarischer Klassiker eine versäumte Kindheit aufzuholen. Oder die Momente, in denen Judy ihren Sponsor – den sie liebevoll nach seinem langgezogenen Schatten Daddy Langbein nennt, für erhaltene Geschenke schilt, aus Angst, sich an einen luxuriöseren Lebenswandel zu gewöhnen, als ihr von Rechts wegen zusteht.
Auch gegen ihren Förderer ist Judy dickköpfig und ungehorsam: Zunehmend leidet sie darunter, dass ihre Briefe im Nichts verpuffen, dass sie niemals eine Antwort erhält – bestenfalls ein paar Zeilen des Sekretärs mit kurzen Anweisungen – und beginnt, sich langsam aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Sie erhält ein Stipendium und besteht darauf, es auch anzunehmen, finanziert ihren Sommerurlaub in Eigenregie mit Nachhilfestunden und wächst auf diese Weise zu einer eigenständigen energischen jungen Frau, die ihrem exzentrischen Millionär auch gewachsen ist und nicht als Heimchen am Herd oder schmückende Zierde des Hauses enden wird.
In Judys Briefen verpackt die Autorin ihre sozialen Anliegen: Den Kampf um das Frauenwahlrecht, die untragbaren Zustände in Waisenhäusern – nicht von ungefähr beschließt die Heldin, eine Sozialistin zu werden: Mutig für eine Frau ihrer Zeit, mutig erst recht für ein Jugendbuch, das Webster größter Erfolg werden sollte.
Damit es nicht nur für Jerusha, sondern auch für die übrigen Waisen noch ein gutes Ende geben sollte, schrieb Webster eine Fortsetzung, Dear Enemy, in der Jerushas Freundin Sallie die Aufgabe bekommt, das John Grier Heim zu reformieren. Aber dazu später mehr, denn das ist ein eigenes Buch und soll auch eine eigene Rezension bekommen. Nur für die Autorin selbst sollte es kein Happyend geben: Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Dear Enemy verstarb die Nichte Mark Twains im Kindbett.
Noch heute bewegt dieses Buch, und bewegte etwas in mir, dass ich es am Ende beiseitelegte und nach meinem Briefblock griff, um einer kläglich vermißten Freundin ein paar Zeilen zu schreiben: Auch in Zeiten von Telefon- und Internetflatrats gibt es immer noch die gute alte Tinte als Kommunikationsmittel. Und ich hoffe, hoffe, hoffe aus ganzem Herzen, dass ich, anders als Jerusha, auf diesen Brief eine Antwort bekommen werde
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