Da muss ich jetzt eigentlich von Christoph erzählen. Der ist in München, was nicht wirklich zum Wort Landleben im Titel passt, aber er ist nun einmal da, für ein halbes Jahr, und macht ein Praktikum. Er hat ein kleines möbliertes Zimmer in einer WG, wo gerade das Nötigste reinpasst, und mehr als das Nötigste hat er auch gar nicht mitgenommen. Seine Bücher zum Beispiel hat er zuhause gelassen. Aber wofür ist seine Freundin ein Buchmensch? Und so ist es nun an mir, ihn mit Lesefutter zu versorgen. Am Wochenende bin ich hingefahren, und er bat mich also, ihm etwas zu lesen mitzubringen. Irgendwelche Krimis.
Nun könnte ich das machen wie in der Reklame und sagen »Irgendwelche Krimis habe ich nicht« – aber das stimmt nicht, natürlich habe ich auch irgendwelche Krimis, noch aus den Zeiten, als ich mich blind durch alle Antiquariate und Wühlkisten Kölns gekauft habe, um mit steigenden Bücherzahlen gegen sinkende Leselust anzukämpfen. Da ist viel, viel Schrott dabei, und vieles davon habe ich nie gelesen. Aber wenn es darum geht, meinem Freund im fernen München einen angenehmen Leseabend zu bereiten, muss etwas Gutes her. Etwas wirklich Gutes. Und so griff ich kurzentschlossen und zielsicher ins Regal und holte meine ersten vier Bücher von Margery Allingham heraus – Gefährliches Landleben, Hüter des Kelches, Polizei am Grab und Süße Gefahr.
Köstliche Krimis, die ich zur Zeit meines Abiturs gelesen und später während des Studiums sukzessive zusammengekauft habe (überwiegend antiquarisch, denn die guten schwarz-gelben Diogeneskrimis waren damals doch schon recht teuer). Großartige Bücher. Zehn Jahre lang nicht angerührt, außer, um sie zu Umzügen ein- und wieder auszupacken. Wirklich großartige Bücher. Von sentimentalen Erinnerungen übermannt, packte ich das erste Buch ins Handgepäck, und während ich in einem ebenso vergnügten wie beengten Opel Corsa von der Mitfahrzentrale Münchenwärts fuhr, saß ich hinten und las, und kurz bevor wir München erreichten, klappte ich das Buch zu und hatte es durch. Ein wirklich köstliches Buch. Und man kann es im Auto lesen, während der Fahrt, ohne dass einem schlecht wird.
Wir werden alle nicht jünger, aber nur weniger Seriendetektive tun uns den Gefallen, mit uns zu altern. Da wären eigentlich nur Tommy und Tuppence Beresford, Agatha Christies unbekannteste Ermittler, die uns in den zwanziger Jahren als Jungverliebte bezaubern und in den Siebzigern als rüstige Senioren auf Verbrecherjagd gehen – ganze fünf Bände hat die Großmeisterin ihnen gewidmet. Und da wäre Albert Campion. Der tritt 1929 das erste Mal auf, erhält 1930 seine erste Hauptrolle, und verlässt uns gute zwanzig Bücher und achtunddreißig Jahre später, als seine Autorin stirbt. Dazwischen tut er das, was wir alle tun: Er wird älter. Nach The crime at Black Dudley, wo er nur als Nebenfigur – und offenbar auch als Hauptverdächtiger – in Erscheinung tritt, ist Mystery Mile (so der englische Originaltitel) nun also der erste »offizielle« Fall für Albert Campion. Und man muss ihn einfach lieben.
Albert Campion ist ein Held ganz nach meinem Geschmack. Zuerst einmal heißt er in Wirklichkeit weder Albert noch Campion. Und auch nicht Albert Memorial, wie er sich auch schon mal nennt. Oder wie einer der vielen anderen Namen, unter denen er verkehrt und die, nach Ansicht seines Faktotums, seine Trauerkarten eines Tages sehr teuer machen werden. Albert Campion sieht auch nicht gut aus. Oder schlecht. Mehr nach gar nichts. Er trägt eine Brille, was offenbar das einzig Bemerkenswerte an seinem leeren, dümmlichen Gesicht ist. Und er hat ganz offensichtlich einen Sockenschuss. Sicher, vieles davon ist nur gespielt – er gibt gern den Idioten, damit man ihn unterschätzt – aber eines steht fest: Dies ist kein Mann von geistiger Stabilität und Gesundheit.
Wie sein Zeitgenosse, Dorothy L. Sayers großartiger Lord Peter Wimsey, ist er offenbar vom Adel, mit einem Polizeiinspektor befreundet und besitzt einen treuen Schatz von einem Kammerdiener. Aber als habe Allingham absichtlich Sayers’ intellektuellen Aristokraten persiflieren wollen, ist Campions Faktotum (Leibwächter? Kindermädchen?) ein ehemaliger (?) Berufsverbrecher (!), und der brillante Detektiv selbst, wie erwähnt, nicht immer ganz richtig im Kopf (wir erinnern uns an Lord Peters Schützengrabentrauma – dem müssen wir etwas entgegensetzen!). Ohne jeden Zweifel aber ist Albert Campion ebenso genial wie zwielichtig. Ein Held ganz nach meinem Geschmack.
Und zimperlich ist er auch nicht, weder in der Wahl seiner Methoden, noch der seiner Gegner. Wer so viele Unterweltkontakte hat (die auch schonmal ein Fahrrad klauen, um ihn im ländlichen Suffolk zu besuchen, und sich freuen, dass sie es nicht mal umlackieren mussten), kann es auch erlauben, sich mit dem organisierten Verbrechen anzulegen. Und gleich in seinem ersten Fall hat er sich einen ganz dicken Brocken ausgesucht, den Kopf einer internationalen Verbrecherbande, die einem eigensinnigen schutzunwilligen Richter nach dem Leben trachtet. Der Richter samt Sohn und Tochter wird aufs Land verfrachtet, kurz darauf ist der Pfarrer tot, und der Krimi darf seinen Lauf nehmen. Wir bekommen alles, was sich ein Leser nur wünschen kann. Tote Leute! Geheimnisvolle Schreie! Entführungen! Befreiungen! Action! Urige Einheimische! Und ganz nebenbei ein verdammt gutes Buch.
Zweierlei trägt die Handlung, die in einem anderen Buch stumpf und konventionell dahergekommen wäre: Zum einen der Held, der immer mehr weiß als alle anderen, den Leser eingeschlossen, und zum anderen der großartige Stil. Ein Lob sei hier auch der Übersetzerin Brigitte Mentz ausgesprochen, die es schafft, sogar Cockney- und Suffolkdialekte lebensnah und glaubwürdig zu übertragen. Dennoch würde ich gerne auf die Dauer alle Bücher Allinghams im Original lesen – wie gut müssen sie dann erst sein! Der ernste, oft hintergründige Witz macht auch beim wiederholten Lesen Spaß, die zahlreichen Anspielungen entdeckt man ohnehin oft erst beim zweiten oder dritten Mal – sie werden nicht lange erklärt, hier traut die Autorin ihren Lesern noch etwas zu.
Ich habe jedenfalls lange keinen Krimi mehr so genossen wie diesen, und mir blutet schier das Herz bei dem Gedanken, dass ich die drei Folgebände in München lassen musste, denn ich will sie doch gerne alle wieder lesen und in der richtigen Reihenfolge, denn wo der Held mit der Autorin altert, ist die Chronologie durchaus von Bedeutung. Aber Christoph hat mir versprochen, sie mir am nächsten Wochenende wieder mitzubringen – dafür will er dann die nächsten vier. Er hat Gefährliches Landleben also genauso genossen wie ich.
Leider sind alle Werke Allinghams auf dem deutschen Markt derzeit vergriffen – der Großteil der Campion-Krimis ist bei Diogenes erschienen, nur zwei haben sich zum Goldmann-Verlag verirrt, wo sie weniger gelungen übersetzt und nach meinem Dafürhalten auch noch gekürzt wurden. Aber die englischen Ausgaben sind lieferbar, und ich werde nun versuchen, ob ich die relativ junge BBC-Serie zu den Büchern irgendwo auftreiben kann. Und jedem Leser kann ich nur empfehlen, sich schon einmal selbst auf die Suche nach den restlichen Büchern zu begeben. Das sind Krimis, die man nicht versäumen sollte. Und auch in Deutschland gefälligst wieder auflegen.
Kommentare