Margery Allingham: Polizei am Grab

In seinem dritten Abenteuer verirrt sich Albert Campion nach Cambridge, und dieses Gefühl der Verirrtheit zieht sich durch das ganze Buch, obwohl man meinen sollte, dass hier jeder, Albert eingeschlossen genau da ist, wo er hingehört. Aber der hat nicht nur sein Faktotum Lugg zuhause gelassen, niemand meldet sich mit einem launigen »Aphrodite Kleisterwerke« am Telefon, niemand klaut Fahrräder oder bricht beiläufig irgendwo ein – nein, Campion steckt mitten im Sumpf der intellektuellen High Society, als gehöre er nirgendwo anders hin. Man kennt ihn. Die alte Hausherrin redet ihn gelegentlich mit Rudolph an, seinem richtigen Vornamen (den Nachnamen erfahren wir auch hier hartnäckig nicht), und er hat keinen Grund, den Schwachsinnigen zu spielen – niemand ist da, um es ihm abzukaufen, hat ihn doch ein alter Studienfreund um Hilfe gebeten. Vieles, eigentlich alles, Albertesque fehlt in diesem Buch, und mit ihm der Witz. Polizei am Grab ist ein intelligenter und gut geschriebener Krimi voller interessanter Persönlichkeiten, aber leider ein Buch, das mit seinen Vorgängern nicht mithalten kann.

Vielleicht liegt es am Setting: Das verknöcherte Cambridge kann nicht mithalten mit dem ländlichen Charme von Gefährliches Landleben und Der Hüter des Kelchs. Vielleicht ist ein einfacher verschwundener Onkel und ein bisschen Mord auch einfach zu wenig für den guten Albert, der seine Freunde und Leser längst an das organisierte Verbrechen und die großen Gangsterbosse gewöhnt hat. Vielleicht gibt es einfach zu wenig haarsträubende Action. Vielleicht wollte aber auch die Autorin ihre Vielseitigkeit beweisen, und zeigen, dass sie mehr kann, als intelligente Schenkelklopfer zu liefern. Und wenn das ihr Ansinnen war, so ist es ihr gelungen.

Albert Campion kann auch anders – das ist gut, und das ist wichtig. Ob Allingham schon damals, 1931, ahnte, dass dieser Detektiv genug Format hatte, um sie – und ihre Leser – noch über dreißig Jahre lang zu beschäftigen? Campion kann nicht ewig der Junge Mann, der Seichte Schwätzer, der Hilflose Trottel bleiben. Aber so sehr ich diese Wandelbarkeit auch begrüße, ist mir der alte Albert doch immer noch der liebste, zumindest zurzeit. Ich mag Lugg. Ich mag die Halbweltfiguren und die Kleisterwerke (auch der Newsletter der Margery Allingham Society trägt den Namen From The Glue Works). Und all das vermisse ich hier, mit dem Ergebnis, dass die Lektüre von Polizei am Grab sich deutlich länger hingezogen hat als die der ersten beiden Bände.

Es ist das Problem eines jeden klassischen Krimis: Wo ein Toter, da ein Täter. Aber um dem Leser nicht alle Spannung zu nehmen, muss eine ausreichende Anzahl an Tatverdächtigen her. Und die müssen – so hat S.S van Dine es in seinen Regeln für das Krimischreiben vorgeschrieben, und die meisten Autoren halten sich daran, selbst wenn sie von van Dine niemals gehört haben – bis zum fünften Kapitel in im Buch aufgetreten sein. Niemand hat Spaß an einem auf der drittletzten Seite aus der Hinterhand gezauberten Erzschurken. Besser ist da doch ein gutes altes englisches Landhaus oder eine Stadtvilla, angefüllt mit ebenso skurrilen wie verdächtigen Angehörigen einer in stumpfem Hass erstarrten Familie, von denen es jeder gewesen sein könnte. So auch hier. Ergebnis: Es treten zu viele Figuren gleichzeitig auf, und auch wenn Allingham jeden von ihnen liebevoll charakterisiert, verliert man den Überblick und wünscht sich Stammbaum und Ahnentafel.

Die Faradays, beherrscht von Großtante Caroline, die aber auch, je nach Familienmitglied Mutter, Tante oder Großmutter ist, sind die Nachkommen/Kinder/Witwen eines ehrwürdigen Cambridger Collegegründers – ihre Namen sind Andrew, Julia, George oder William, und dauernd erwische ich mich dabei, wie ich hin und her blättere, um nachzulesen, wer jetzt wer ist und wer tot und wer verdächtig. Wenn sie nicht nur alle Faraday hießen! Bei Agatha Christie hat mich das nicht gestört, aber an meine Margery Allingham stelle ich andere Anforderungen. Und da ist mir sogar lieber, Albert legt sich mit einem Crime Boss an, dessen Name auf Seite drei bekannt ist, und tut es auf seine unnachahmliche Weise, als dass er wie ein zweitklassiger Poirot im Salon sitzt und Tee oder Whiskey trinkt. Auch wenn es schön ist, dass er auch kann.

Aber ich will nicht ungerecht sein. Polizei am Grab ist immer noch ein guter Krimi, und die Auflösung ist durchaus Campions und Allinghams würdig. Für jeden, der sich durch Allinghams Oeuvre arbeitet, ist dieses Buch ein Muss, denn es führt mit Onkel William eine durchaus liebenswürdigen Charakter ein, der uns auch in späteren Bänden weiterbegegnen wird, vielleicht als Trost dafür, dass unser geschätzter Lugg nicht immer mit von der Partie ist. Nur wenn ich wählen muss zwischen einem Buch mit Lugg und einem mit Onkel William, werde ich mich immer für das mit Lugg entscheiden. Solange Campion darin vorkommt, heißt das.

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