Vielleicht hätte ich dieses Buch besser nicht gelesen. Es betrifft mich inhaltlich zu sehr, und vieles aus meiner Jugend kocht wieder hoch, vor allem folgende symptomatische Anekdote: Ich war fünfzehn Jahre alt und bummelte mit meiner besten Freundin durch die Stadt. Bis sie plötzlich zu mir sagte: »Du, macht es dir was aus, gerade mal eben auf die andere Straßenseite zu wechseln? Da kommen ein paar Freunde von mir, und die sollen mich nicht mit dir sehen.« – Was sollte ich tun? Ich gehorchte, ohne zu widersprechen. Sie war meine einzige beste Freundin, und ich konnte mir nicht erlauben, sie zu verlieren. Sollte ich mich nicht sogar geehrt fühlen, dass sie sich überhaupt mit mir abgab? Aber das tat ich nicht.
Zeig dein Gesicht ist die Geschichte einer solchen Freundschaft. Ein sensibles Buch, das ein sensibles Thema anrührt: Cliquenbildung und Schulhofmobbing. Ein Buch, das aufrütteln und sensibilisieren will. Es richtet sich an die Täter, nicht an die Opfer. Es ist nicht für mich geschrieben. Und ich hätte es auch besser nicht gelesen.
Hippe Cliquen-Queen freundet sich mit dem meistgehassten Freak der Schule an, bringt ihre Clique gegen sich auf und verrät die Freundschaft zugunsten des Status Quo – so lässt sich die Handlung schnell auf den Punkt bringen. Megan Tuw, die Heldin und Icherzählerin, macht es einem mit ihrer oberflächlichen blasierten Art nicht leicht, sie zu mögen – es wird aber schnell klar, dass sie im Vergleich zu ihren noch oberflächlicheren, blasierteren Freundinnen noch so eine Art »gute Zicke« darstellt, eingebettet in ein liebe- und verständnisvolles Fortschrittselternhaus. Ich kenne diesen Typ Mensch, die niemandem etwas Böses wollen und doch das Wort Freak immer locker auf der Zunge sitzen haben, wenn jemand sich ihren Konventionen verweigert.
Perdita, auf der anderen Seite, vereint dann auch wirklich alle Freak-Klischees in sich, vom Shakespeareschen Vornamen über ihren Kleiderstil, Frisur, Hobbys, Hochintelligenz, Sarkasmus und Begabung, dass ich mich lesend unentwegt fragen muss: War ich auch so schlimm? Oder war es schlimmer, dass ich immer im entscheidenden Moment noch versuchen musste, mich anzupassen?
Was ich diesem Buch primär vorwerfe ist, dass es nicht Perditas Geschichte erzählt, sondern Megans – natürlich, es ist für die Megans dieser Welt geschrieben und nicht für die Perditas. Wir erfahren, was Megan dazu bewegt, sich dieser Freundschaft zu stellen, lernen, was für eine Faszination doch von den Leuten, die man Freak nennt, ausgehen kann, wenn man nur bereit ist, über den Tellerrand zu blicken: Diese Phantasie! Diese Begabung! Diese Intelligenz!
Mich hätte Perditas Geschichte interessiert. In welcher Emotionalen Lage muss ein Mädchen, phantasievoll, begabt, intelligent, sein, dass es sich ausgerechnet mit einer Megan Tuw anfreundet? Was hat Megan zu bieten? Nichts als einen Status, der Perdita nicht weiter interessiert. Megan ist ein menschliches Nichts. Niemand, der als Freundin etwas wert wäre. Man muss sehr verzweifelt sein, um sich ausgerechnet um so einen Menschen zu bemühen. Perdita ist sehr verzweifelt. Aber im Mittelpunkt des Buches steht Megan, deren Bereitschaft zur Freakfreundschaft ein Heldenmut ist, der mehr Zivilcourage erfordert, als Megan am Ende aufbringen kann. Niemand fragt nach Perditas Zivilcourage. Aber ich denke, das ist eine Absicht der Autorin und hängt mit der Zielgruppenpolitik zusammen. Wenn die Megans dieser Welt am Ende des Buches glauben, dass die Perditas sie sowieso hassen und verachten, dann werden sie doch erst recht weiter das F-Wort pflegen…
Gedichte spielen in diesem Buch eine große Rolle – auch der Originaltitel Walking Naked bezieht sich nicht nur auf eine Schlüsselszene, sondern stammt aus einem Gedicht von W.B. Yeats. Da es sich auch in seiner deutschen Ausgabe an Jugendliche richtet, die sicher schon seit mehr als drei oder vier Jahren Englisch lernen, hätte es mehr Sinn gemacht, die zahlreichen lyrischen Textbeispiele – von William Blake über Sylvia Plath bis hin zu Destiny’s Child – im Original zu belassen. Leider wurde in allen Fällen auf Übersetzungen zurückgegriffen, die, auch wenn sie aus Anthologien renommierter Verlage stammen mögen, oft seltsam bemüht und gekünstelt klingen und sicher nicht den Effekt haben werden, deutsche Jugendliche zu Lyrikliebhabern zu machen.
Davon abgesehen, ist die Übersetzung durchaus gelungen und lebendig, und dass dieses Buch in Australien spielt, ist völlig irrelevant – jedes andere zivilisierte Land kommt in Betracht, und aufgrund der englischen Namen siedelt man es beim Lesen wahrscheinlich automatisch in den USA an. Da es aber bekanntermaßen auch ein deutsches Problem ist, finden sich im Anhang URLs von deutschsprachigen Webseiten, die Informationen und Beratung für gemobbte Schüler und ihre Freunde und Angehörigen bieten.
Nichtsdestotrotz ist es eine menschlich interessante Geschichte. Die Geschichte eines Verrats und einer Verräterin. Die Geschichte von Entscheidungen, die man trifft und nicht ungeschehen machen kann. Ein lohnendes Buch. Die Frage ist nur, wer es lesen soll. Es sind die Perditas dieser Welt, die sich freiwillig solche Bücher ausleihen, während die Megans keine Geschichten wollen, die nichts weiter tun als ihnen Schuldgefühle einreden. Es sind die Perditas, die sich am Ende des Buches einsam und ausgestoßen fühlen, wenn sie merken, dass nicht einmal ein solches Buch ihnen eine Hauptrolle im Leben einräumt – dass Perdiata das ganze Buch über niemals etwas anderes ist als ein Freak, erst ein abstoßender, dann ein faszinierender, am Ende ein toter – Freak bleibt Freak.
Das ist ein Status, den man im Leben nie ablegt. Selbst, wenn man irgendwann wirkliche Freunde findet. Selbst, wenn es mehr als fünfzehn Jahre her ist, dass man für seine beste Freundin die Straßenseite wechseln musste. Irgendwann ist er nur nicht mehr so ständig präsent, wenn man nicht mehr direkt daran erinnert wird. Und das ist auch der Grund, warum ich Zeig dein Gesicht wohl doch besser nicht gelesen hätte.