In ein paar Wochen werde ich dieses Buch wohl nochmal lesen müssen, nämlich dann, wenn es chronologisch nach der Allingham-Bibliographie an der Reihe ist. Ich habe mit der Lektüre der Handlung nämlich um schändliche elf Jahre vorgegriffen. Nicht aus böser Absicht, sondern aus Verzweiflung: Denn eigentlich hatte ich nicht vor, im Zug von Offenburg ins heimische Münsterland überhaupt zu lesen. Schreiben wollte ich. Aber der Platz reichte nicht aus. Zwar war es mir gelungen, einen Abteilplatz im Intercity zu buchen, aber da hörte es auch schon auf mit Bewegungs- und Beinfreiheit. Eingezwängt zwischen dicken Männern griff ich schließlich taschendiebgleich in meinen Koffer und zerrte das erstbeste Buch heraus, das ich erreichen konnte.
Schließlich hatte mich Christoph wieder reich versorgt an ausgelesenen Campions. Aber er hat doch inzwischen schon einen stattlichen Vorsprung von sechs Bänden erarbeitet. Wenigstens erwischte ich nicht Überstunden für den Totengräber von 1948, aber 1945 wurde es dann doch schon. Passenderweise ist Zur Hochzeit eine Leiche auch das erste Allingham-Buch, das ich mir kaufte (nicht das erste, das ich las, dafür hatte die Stadtbücherei gesorgt), und ich erinnerte mich nur noch, dass ich es 1993 halbwegs langweilig fand. Da mir aber der letzte Satz noch im Kopf war, musste ich es auch damals schon bis zum Ende gelesen haben, nur der Mittelteil war mir komplett entfallen. Oder hatte ich ihn nie gelesen? Das Buch ist nämlich vieles, aber sicher nicht langweilig. Dafür sorgt schon das Schwein.
Ich weiß nicht, wie viele Fälle Margery Allingham für ihren Albert Campion geplant hatte, als sie in den zwanziger Jahren ihre Krimiserie in Angriff nahm, doch dieser hier kann nicht dazugehört haben: Wer seine Helden mit Fortschreiten der Handlung altern lässt, ist gezwungen, mit der Zeitgeschichte zu gehen, aber selten ist das auffälliger und schmerzlicher als hier. Der Zweite Weltkrieg ist nicht nur über England hereingebrochen, sondern auch über Albert Campion selbst. Das London, das wir aus den klassischen Krimis lieben, mit seinen Künstlervierteln, Museen und gesellschaftlichen Empfängen, nebelverhangenen Straßen und zwielichtigen Gestalten, gibt es nicht mehr. Es liegt in Schutt und Asche, seit die Deutschen ihre Luftangriffe fliegen. Ich habe schon verschiedene Bücher über London im Krieg gelesen, aber selten hat es mich mehr berührt als hier: Plötzlich ist es, als hätte ich selbst liebe Freunde verloren, als hätte ich eben noch in den Häusern Tee getrunken, die nun in Trümmern liegen.
Vier Jahre sind vergangen zwischen Traitor’s Purse (1941) und diesem Buch, Coroner’s Pidgin – der erste größere Bruch in der Serie, und viel ist in der Zwischenzeit passiert, was der Leser doch eigentlich lieber miterlebt hätte, zum Beispiel, was Albert und Amanda endlich getan haben, oder Amanda ohne Albert, während der seinem Land in vermutlich geheimer Mission gedient hat – Allingham hält sich nicht mit Rückblenden auf, und von ein paar Anspielungen auf Traitor’s Purse abgesehen, verweilt das ganze Buch in der Gegenwart, in einem straffen Zeitrahmen von wenigen Tagen Fronturlaub, den Albert ganz genau verplant hat: Schnell zuhause ein Bad nehmen, dann mit dem Taxi zum Bahnhof und ab aufs Land, wo nicht nur Amanda auf ihn wartet. Albert müsste es besser wissen: Das geht nicht ohne Ärger ab. Und auch nicht ohne Leiche. Und da Albert in dem Moment keinerlei Interesse daran hat, irgendeine Leiche aufzusuchen, muss die Leiche wohl oder übel zu Albert kommen, freundlicherweise getragen vom getreuen Lugg und einer Dame höheren Gesellschaft.
Selten hatte Campion weniger Interesse daran, einen Fall zu übernehmen, aber bevor er ihn gelöst hat, darf er die Stadt nicht verlassen: Das ist dann doch Anreiz genug. Und natürlich lauert auch in den Ruinen Londons das organisierte Verbrechen.
Trotz des schrecklichen Settings, das wenig Raum zum Lachen bietet und das auch ohne unnötigen Humor geschildert wird, ist Zur Hochzeit eine Leiche ein durchaus amüsantes Buch mit einem gelungenen, raffinierten Plot, der sich nicht allzu leicht durchschauen lässt. Es gehört Mut dazu, einen klassischen Krimi, ohne böse Nazis oder schattige Spionageelemente, in einer kriegserschütterten Stadt anzusiedeln, doch es gelingt von vorne bis hinten. Ohne jeden Zweifel war Allingham vor Ort und musste das, was sie gesehen hat, niederschreiben, selbst wenn es noch so wehtut. Dass das zerstörte London hier zur Kulisse wird, nimmt man ihr nicht übel; es geschieht behutsam und nicht auf Kosten der Opfer.
Und Lugg, der sich als Luftschutzwart mit dem Schwein, das er zu versorgen hat, anfreundet, geht wirklich zu Herzen – fast noch mehr als die Qualen Albert Campions, der alles nur so schnell als möglich hinter sich bringen möchte. Selbst die Sau ist so liebevoll charakterisiert wie die anderen Figuren in diesem Buch, dem man nur eine Sache wirklich übelnimmt: Dass die Hochzeit, auf die der deutsche Titel anspielt, nicht Campions ist, und dass dem Leser vier ganze Jahre einfach unterschlagen wurden.
Mir ist kein anderes Buch bekannt, bei dem der Spagat zwischen Zeitgeschichte und Krimiplot so gelungen ist. Aber eines ist klar: Dass dieses Buch einen Einschnitt in der Reihe darstellt. Dass es Campions England, wie wir es lieben, nun nicht mehr gibt. Und dass in den späteren Büchern ein anderer Wind wehen wird.