Völlig ungegruselt und noch nicht einmal halb in München legte ich im brenzligen, quietschenden ICE das Haus der Wiederkehr beiseite und bat meine Sitznachbarin um Entschuldigung, um mit schnellem Griff auf Gut Glück das nächste Buch aus meinem Rucksack zu ziehen, ohne ihn auch nur aus dem Gepäcknetz zu wuchten: Der Zug war rammelvoll. Aber was ich dabei erwischte, erfreute mich: Schattengäste von Joan Aiken. Literatur mal zur Abwechslung nach 250 Seiten gepflegter Langweile – nun würde die Großmeisterin des Schauders mir zeigen, wie richtiger Grusel funktioniert!
Aber so gut mir das Buch dann gefiel – gegruselt habe ich mich wieder nicht. Diesmal lag es aber daran, dass The Shadow Guests überhaupt nicht vorhat, ein Schauerroman zu sein. Am Klappentext lag dieser Trugschluss nicht: Das Buch hat gar keinen, sondern beschränkt sich auf eine Kurzbiographie der Autorin. Aber der hinten eingeklebte bibliothekarische Aufmachertext verfehlt den Tenor des Buches um Längen. Von wegen »unheimliche Gestalten aus der Vergangenheit«! Aber es ist zugegeben schwer, diese Geschichte in eine Schublade zu zwängen, die über das Wort Roman hinausginge. Aber wem es reicht, dass ein Buch wirklich gut ist, dem könnte dieses gefallen.
Ein Junge, im Internat von Mitschülern schikaniert, stößt mit Begegnungen aus der Vergangenheit auf einen uralten Familienfluch: Eigentlich möchte ich Schattengäste am liebsten ein Kinderbuch nennen – eine Mischung aus Kiplings Puck of Pook’s Hill und Lucy Maria Bostons Children of Green Knowe – und dass ich es hier unter Belletristik eingeordnet habe, liegt einzig daran, dass der Diogenes Verlag das Buch wie ein Erwachsenenbuch behandelt und aufmacht. Aikens explizite Kinder- und Jugendbücher erschienen derweil bei Oetinger, in kindgerechter Aufmachung. Und die sind, wie bei allen guten Autoren, auch für Erwachsene ein großer Lesegenuss: Zwischen Kinder- und Erwachsenenbuch verschwimmen die Grenzen ebenso schnell wie zwischen den verschiedenen Genres. Und ein solches Buch ist unter Belletristik sicher am besten aufgehoben.
In jedem Fall, ob sie nun für Kinder oder Erwachsene schreibt, ist Joan Aiken eine herausragende Literatin, die sorgsam und liebevoll mit Sprache umgeht und der jeder Satz gelingt – und die dementsprechend auch eine gute Übersetzerin braucht, die sie hier bekommt. So ist das Buch schon stilistisch ein ganz anderes Kaliber als das davor durchgestandene, und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, dass der Held Cosmo heißt, hat man einen rechten Lesegenuss vor sich. Nur der Schluss ist zu überstürzt, als hätte Aiken es eilig gehabt, das Buch abzuschließen – nachdem sie lange ein angenehmes Erzähltempo vorgelegt hat, müssen sich plötzlich die Ereignisse überschlagen: Ab dem Moment, wo das Bettgestell die Treppe hinunter rauscht, gewinnt das Buch an Tempo und verliert an allem anderen, was schade ist. Ich hätte mir einen anderen Ausgang gewünscht und eine andere Art, den Fluch zu brechen – so er denn überhaupt gebrochen ist, diese letzte Ambivalenz macht auch diesen Schluss wieder erträglich, wenn auch nicht verzeihbar: Von Joan Aiken bin ich besseres gewöhnt.
Vom Schluss abgesehen, kann ich den Aufbau des Buches nur in den höchsten Tönen loben. Die Hintergrundinformationen werden behutsam eingestreut, ohne dass Cosmo lange Reflexionen und innere Monologe bräuchte, um zu erklären, warum er nun von Australien nach Oxfordshire verschickt wird – der Leser muss etwas Geduld mitbringen, damit sich die Geschichte behutsam Stück für Stück um ihn herum aufbaut. Ohne unnötige langatmige Beschreibungen stimmen alle Details – als ausgezeichnete Beobachterin erzählt Aiken die Geschichte im Kleinen, mit Momentaufnahmen die sitzen. Sie kennt sich mit Mobbing aus, wie wohl jeder, der einmal mit offenen Augen und Ohren zur Schule gegangen ist, aber auch in der Schilderung der Schikanen wird sie niemals plump oder plakativ – die Dinge sind, wie sie sind. Punkt.
Dass sie es eben doch nicht immer sein müssen, ist das eigentliche Thema des Buches. Dass man einen Fluch brechen kann, indem man von den eingefahrenen Pfaden abweicht, auch wenn es schmerzt – dass einer hingehen muss und etwas anderes tun, als was man von ihm erwartet. Dass es viele Arten gibt, eine Schlacht zu schlagen, und dass man nicht immer kämpfen muss – vielleicht ist es das, was dieses Buch uns sagen will. Aber auch hier bleibt der moralische Zeigefinger auf Halbmast. Und am Ende bleiben genug Fragen offen, um dem Leser Zeit zu geben, sich seine eigenen Antworten zu suchen. Wenn er denn will.
Und ich werde noch einmal Die Kinder von Green Knowe lesen, um beurteilen zu können, was ein Kinderbuch ist und was Belletristik, wenn ein Junge auf einem alten Landsitz gleichaltrigen Vorfahren begegnet… und weil das auch ein gutes Buch ist. Ganz anders als dieses, aber auch gut. Und danach kann ich immer noch die Stadtbücherei nach Aikens (anderen) Jugendbüchern durchsuchen.