Unsere Pfarrbücherei, in die ich sehr oft ging, bevor ich Fahrschülerin wurde und mir mit meiner Monatskarte die große Stadtbücherei näher rückte, hatte sicher mehr als ein Dutzend Bücher, aber es ergab sich, dass ich mir irgendwie immer wieder die gleichen auslieh, mit schöner Regelmäßigkeit einmal pro Jahr. Am besten von allen gefiel mir Fräulein Lindbloms Klasse 2E – ein Kinderbuch, dessen Titel die gereimte Assoziation mit Fräulein Smillas Gespür für Schnee völlig unverdient weckt. Lange Jahre, nachdem ich der Pfarrbücherei entwachsen war, habe ich es mir dann endlich selbst gekauft und es nun, wiederum zehn Jahre später, noch einmal gelesen. Und es war wieder ein Vergnügen, aber diesmal mit einem anderen Hintergrund:
Ich wurde 1981 eingeschult, mitten im Ruhrgebiet, in Castrop-Rauxel-Ickern, Marktschule, und folglich war ich 1982 im zweiten Schuljahr, Klasse 2C bei Frau H.. Fräulein Lindblom ist 1978 erschienen – vier Jahre machen nicht viel aus, und somit sind dieses Buch und ich quasi Zeitgenossen. Jede Seite ließ mich Parallelen ziehen – war das bei uns damals auch so? Und war Frau H. nicht eine tolle Lehrerin? Und hatte ich in Ickern nicht die beiden besten Grundschuljahre, die sich ein Kind nur wünschen kann? Schwärmerei über Schwärmerei, bei der jedoch eines mehr und mehr offensichtlich wurde: Egal was auf dem Cover stehen mag, Fräulein Lindbloms Klasse 2E ist nicht »Die witzigste Schulgeschichte der Welt«. Und egal was im Klappentext steht, solch eine Lehrerin wünsche ich eigentlich niemandem.
Die Lehrerin, Fräulein Lindblom, ist ohne jeden Zweifel eine ganz liebe. Aber sie kann nicht mit Kindern umgehen. Je mehr es sind, und je jünger sie sind, desto hilfloser wird sie. Elterntage, bei denen auch noch die ganzen kleinen Geschwister mitkommen und chaotisch herumtoben, sind ihr ein Graus. Ihr fehlt jede Form der Autorität, Durchsetzungsvermögen, oder sonst ein Plan. Praktisch gesehen, machen die Kinder in ihrer Klasse, was sie wollen, und für diese Hilflosigkeit lieben sie ihre Lehrerin. Aber sie nehmen sie nicht ernst, und nicht für voll: Warum lässt diese Frau, die sogar verheiratet ist und damit auch schon 1978 das volle Recht hätte, mit Frau angeredet zu werden, zu, dass ihre Klasse sie mit Fräulein anredet? Dass mit wenigen Ausnahmen jeder Junge aus der 2E offen erklärt, sie heiraten zu wollen, und sich den schnellen Tod ihres Gatten herbeisehnt?
Wir aus der 2C hatten unsere Frau H. auch gern, aber keiner kam auf die Idee, sie heiraten zu wollen – ob sie einen Mann hatte oder nicht, war uns und überhaupt völlig egal. Sie war Frau H., Punkt. Eine nette junge Lehrerin – Frau Lindblom sah für mich immer aus wie sie – die, frisch von der Uni, tolle Ideen und sinnvolle positive Ansätze mitbrachte. Bei ihr habe ich mehr gelernt als nur schreiben, und ganz sicher konnte sie wirklich gut mit Kindern umgehen und musste auch vor den jüngeren Geschwistern keine Angst haben. Und auch wenn es die gleichen Zeiten waren und die antiautoritäre Erziehung noch in aller Munde war, und auch Frau H. niemals autoritär herumbrüllte – sie war eine Person, vor der ich damals Respekt hatte und heute noch viel mehr.
Aber zurück zum Buch. Es ist nicht witzig, und Fräulein Lindblom ist keine tolle Lehrerin – aber es ist trotzdem ein gutes Buch, in seiner differenzierten Schilderung der Kinder und Erwachsenen mit ihren Ticks, Sorgen und Träumen. Der hyperaktive Fredrik, der im Unterricht wahlweise sterbende Soldaten malt oder stört, ist die eigentliche Hauptfigur des Buches, auch wenn die Autorin sich bemüht, den anderen Kindern gleichmäßige Plotanteile zuzuschustern. Wobei spätestens beim zweiten oder dritten Lesen auffällt, dass manche Kinder aus der Klasse nicht einmal erwähnt werden – siebzehn Schüler sind nun wirklich nicht zu viele, um jeden einzelnen auszuarbeiten, aber das ganze Buch über lernen wir nur neun von ihnen kennen – über den Rest kann man nur rätseln und sich fragen, ob die Klasse wirklich nur drei Mädchen hat und ob Fräulein Lindblom nicht wirklich besser an einer Bullerbüesken Zwergschule untergebracht wäre.
Eine durchgehende Handlung gibt es nicht: Wie für Schulgeschichten typisch, haben wir eine lose Ansammlung von Anekdoten und Geschichtchen aus Unterricht und Pause. Die Geschichten sind mehr oder weniger witzig, dafür eigentlich immer plausibel und lebensnah – nicht nur für mich, die ich diese Zeit noch miterlebt habe; auch heutige Kinder können sich darin wiederfinden oder heutige Eltern ihre Kinder, auch wenn die vielleicht nicht mehr Abba und die Beatles hören und Generalissimo Francisco Franco schon etwas länger tot ist.
Zwischendurch kommt das Buch, wie sollte man es von einem Zeitgenossen auch anders erwarten, mit der Moralkeule daher: Frauen und Männer sind gleichberechtigt, Krieg ist schlimm, etc. Aber genau das waren die Themen, die mich als Siebenjährige auch bewegt und berührt haben, und darum nehme ich das dem Buch nicht übel.
Als die Kinder lernen sollen, was Demokratie ist und daraufhin demokratisch beschließen, jetzt alle nach Hause zu gehen und ihre liebe Lehrerin daraufhin in Tränen ausbricht, kommt der beste und selbstironische Moment des ganzen Buches: Fredrik lässt die ganze Klasse »demokratisch« erklären, dass ihre Lehrerin die beste der Welt ist, und verkündet dann: »Und jetzt holt eure Blöcke heraus und zeichnet die restliche Stunde über, und damit basta! Das habe ich nämlich bestimmt, für diesmal haben wir nämlich genug Demokratie gehabt!«
Dem habe ich nur noch wenig hinzuzufügen.
Im wirklichen Leben wären Fräulein Lindbloms Kinder jetzt alle Mitte bis Ende Dreißig, und ich ertappe mich beim Lesen bei der Frage, was wohl heute aus ihnen geworden sein mag – so wirklich sind sie für mich, damals wie heute. Und wirklich ist für mich ein wichtigeres Kriterium als witzig. Aber ich habe inzwischen sowieso mehr das Gefühl, dass Gunilla Banks das Buch mehr für die heutigen Erwachsenen geschrieben hat als für die damaligen Kinder. Aber wenn es mir mit neun Jahren gefallen hat – nachdem ich vom Ruhrgebiet ins Münsterland gezogen war und meine alte Schulklasse, allem voran Frau H., bitterlich vermisste – und mir heute noch gefällt – wo ich immer noch gerne an die Marktschule und Frau H. zurückdenke – dann lässt das nur einen Schluss zu:
Dies ist ein gutes Buch.