Da steht ein kleines Mädchen in einem buntbedruckten Baumwollkleid mitten in einem Kornfeld, eine Weizengarbe in Händen, und blickt irgendwie orientierungslos nach links aus dem Bild hinaus, auf jedenfall nicht dorthin, wo in schlecht kontrastierten roten Buchstaben der Titel des Buches steht… Wirklich, mit diesem Cover hätte ich das Buch noch nicht mal in der Bücherei angefaßt! Selten, von meiner Ausgabe von Daddy Langbein einmal abgesehen, hatte ich es hier mit einer derart verunglückten Buchgestaltung zu tun. Denn Betsy, die junge Heldin aus Das allerbeste Apfelmus, lebt lange vor bedruckten Baumwollkleidern und setzt auch das ganze Buch über keinen Fuß in ein Kornfeld – was weder ihr, noch der Geschichte abträglich ist.
Dass ich dieses Buch zu meinen allerliebsten Kinderbüchern zähle, verdankt es der Tatsache, dass das Exemplar in unserer Schülerbücherei deutlich ansprechender aussah. Daher wurde es auch viel gelesen – von mir nämlich. Einmal pro Schuljahr lieh ich es mir aus, und auf der Leihkarte konnte man schön beobachten, wie sich meine Handschrift vom sechsten bis zum zehnten Schuljahr veränderte – bis ich dann irgendwann nicht mehr zur Schule ging, sondern eine Buchhandelsausbildung machte, und auf die Idee kam, mir dieses Kleinod endlich selbst zuzulegen. Der Großhandelskatalog zeigte, zumindest damals, keine Cover. Denn, ganz ehrlich, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet – ich hätte mich lieber auf die Suche nach einem antiquarischem Exemplar gemacht. Oder noch besser dem englischen Original. Doch es war in dem Jahr, bevor ich mir das Internet nutzbar machte, und das heißt: Ich wusste es noch nicht besser. Aber Cover hin oder her – Understood Betsy ist eines der wundervollsten Kinderbücher, die je geschrieben wurden.
Ein kleines Mädchen, Vollwaise, lebt in der Stadt bei der Tante, doch diese kann oder will nicht mehr für das Kind sorgen, und so landet das arme Hascherl auf dem kargen Land bei hartherzigen Verwandten, wo es dann alle Welt mit seiner warmherzigen Art zu begeistern weiß… Und so wird aus Adelheid dann das Heidi. Oder aus Elizabeth Ann die Betsy.
Heidi habe ich ein paarmal gelesen, aber ohne übertriebene Begeisterung – sicher, ein nettes Buch, aber es gibt mir nicht das, was mir Das allerbeste Apfelmus gibt. Das mag an der Schwarzweißmalerei in Heidi liegen – die Leute können sich wandeln, das ist ja schon mal gut, aber sie sind dennoch immer irgendwie entweder hartherzig und stur oder goldig und gut – mit dem Geisenpeter als einzige Ausnahme, ist doch immer klar, wer der Gute ist und wer nicht. Aber Das allerbeste Apfelmus verzichtet auf so etwas. Betsy ist ein Kind, für das jeder nur das Beste will – die zur Hysterie neigende Tante Frances, die viele Bücher über Kindeserziehung gelesen hat und unbedingt alles pädagogisch wertvoll und richtig machen will, wie auch die Verwandten auf der Putney-Farm, draußen in Vermont, die das Mädchen ohne großes Aufhebens fördern und fordern.
Nicht die Erwachsenen sind es hier, die sich verändern – und verändern müssen! – sondern die junge Heldin selbst. Anfangs unselbständig, ängstlich, grüblerisch und stets in Sorge, irgendeinen Fehler zu machen, muss sie lernen, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Und das tut sie und lernt sie, ohne dass sie dafür Not und Kummer ertragen müsste – eine Wohltat in einer Welt von Kinderbüchern, in denen armen Waisen immer übel mitgespielt wird und in der man fürchten muss, sich nur dann zu einem selbstbewussten Menschen entwickeln zu können, wenn man nur von Feinden und sonstigen Garstlingen umgeben ist.
Aber auch wenn Betsy das meiste lernt, indem sie es selbst ausprobiert, und sich entwickelt, indem man sie sich frei entwickeln lässt, ist dieses Buch, 1917 erstmals erschienen, kein Vorreiter der antiautoritären Erziehung. Betsy löst ihre Probleme mit der magischen Frage »Was würde Cousine Ann jetzt tun?«, und bemüht sich, das Verhalten der Erwachsenen nachzuvollziehen, um es für sich nutzbar zu machen. Die Wärme und Selbstverständlichkeit, mit denen die Erwachsenen hier ihre Vorbildfunktion ausleben, ohne den Leser ständig mit der Nase draufzustoßen, sind erfrischend und machen dieses Buch immer wieder zu einer Wohltat.
Nicht alles ist Heile Welt an diesem Buch – ein armer Junge, der von seinem trunksüchtigen Vater misshandelt wird, darf auch auftreten und wird dermaßen Reiter-des-Königs-mäßig gerettet, dass man froh ist, es nur mit einer kleinen Nebenfigur zu tun zu haben: Ausgerechnet diese sicher kritisch gemeinte Stelle ist es, wo das Buch beinahe zu verkitschen droht, auch wenn es schön zeigt, wie Betsy lernt, sich zu engagieren und bereit ist, dafür auch richtig zu arbeiten.
Aber ob mit dieser Szene oder ohne – es steckt viel Weisheit in dieser Geschichte, große und kleine Weisheiten, die ein jeder in seinem Leben brauchen kann. Beim Lenken muss man nicht wissen, wo links und rechts ist – nur, wo man hinwill: Wie hat mir das geholfen, Fahren zu lernen! Und wie oft habe ich das gleiche Bild anderen erklärt, in so vielen Zusammenhängen – wie zum Beispiel bei der Frage, welche Töne zu einem Gitarrenakkord gehören: »Es ist doch egal, welche Noten das sind, solange du weißt, wo du greifen musst!« Und natürlich das titelgebende Apfelmus (sicher ein etwas gewagter und seltsamer Titel, nicht nur aus heutiger Sicht: So eine große Rolle spielt dieses Apfelmus nun auch wieder nicht, aber wie will man auch Understood Betsy übersetzen): Das Allerbeste Apfelmus ist das, was man selbst abgeschmeckt hat. Habe ich gelernt. Von Betsy.
Und so kann jeder Leser für sich seine eigenen Lehren und Weisheiten herausziehen – die Großen für die Kindererziehung – ein zu sehr behütetes Pflänzchen wird nie zu einem starken Baum! – und das Miteinander – falsche Rücksicht schadet nur! – die Kleinen als Anleitung zum Selbstdenken und -handeln. Ein wundervolles, weises, warmherziges Buch, das einfach ständig wiederaufgelegt werden muss. Also, nochmal für alle, zum Mitschreiben: Lest dieses Buch! Mit welchem Cover auch immer – lest es!