Schubladen sind für Verlage etwas Tolles, und für Autoren etwas Schreckliches. Hat ein Autor mit einem Werk großen oder gar sehr großen Erfolg, wird man ihn kaum noch etwas anderes schreiben lassen. J.K. Rowling zum Beispiel wird man keine naturalistischen Krimis mehr abkaufen und keine historischen Romane, die in der inneren Mongolei spielen und in denen kein bisschen Zauberei vorkommt. Unter einem Pseudonym, vielleicht – aber selbst dann kann sich der Verlag querstellen, denn er weiß nicht, ob er diese Bücher dann verkaufen kann, und überhaupt soll sie keine Zeit mit Experimenten verschwenden, sondern den neuen Harry Potter ranliefern! Wir wissen noch nicht, wie J.K. Rowling auf die Dauer damit umgehen wird. Aber im hier vorliegenden Fall, dem unvergleichlich köstlichen Werk Four Days Wonder, sind sie am Ende alle gescheitert: Der Verlag, der Autor, und das Buch.
Der Autor war kein Unbekannter, ganz im Gegenteil: Alle Welt liebte Alan Alexander Milne als den Verfasser der beiden Bücher um die Abenteuer des Jungen Christopher Robin und seinen Bären Winnie-the-Pooh, sowie zweier Bücher mit Kinderversen. Dass er außerdem verschiedene Romane geschrieben hatte, darunter einen ehemals sehr erfolgreichen Krimi, interessierte Anfang der Dreißiger Jahre niemanden mehr. Pooh war der Hit. Wir wollen mehr Pooh. Aber einer wollte nicht: Der Autor. 70.000 Wörter Kinderbuch waren ihm genug. Christopher Robin, der Sohn, war groß geworden, spielte nicht mehr mit Teddys und wollte nicht mehr mit Versen unterhalten werden, und A.A. Milne wollte wieder schreiben, wonach ihm der Kopf stand, so wie er es schon immer gewollt hatte. Es würde keinen weiteren Pooh geben, basta, und wenn der Verlag sich auf den Kopf stellte – und Milne setze sich durch. Nach Winnie-the-Pooh und The House at Pooh Corner entstanden alle weiteren Abenteuer des Kleinen Bären ausschließlich im Hause Disney. Milne jedoch schrieb ein zum Schreien komisches Buch für die Größeren, Four Days Wonder. Und obwohl ich fast zehn Jahre lang Teddybären gemacht habe und ein entsprechendes Verhältnis zu Pu-dem-Bären habe, ist dieses Buch mir doch von allen Büchern Milnes mit deutlichem Abstand das liebste. Selbst wenn es außer mir heute so gut wie niemand mehr kennt.
Wenn Wilkie Collins bekifft gewesen wäre – er hätte Four Days Wonder geschrieben. Und vielleicht hätte es sich dann auch besser verkauft. Jenny Windell findet im alten Stammsitz ihrer Familie den Leichnam ihrer Tante und flieht verzweifelt, um nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Dabei bedient sie sich verschiedener Verkleidungen und Pseudonyme sowie ihrer einfallsreichen Freundin Nancy (wiederum unter verschiedenen Pseudonymen und in Verkleidung). Nancy arbeitet als Sekretärin für den aufgeblasenen Autor Archibald, dessen Bruder, der schmucke Weinhändler Derek (unter Pseudonym und mit wechselnden Figuren) Jenny auf der Flucht beisteht und das Herz an sie verliert, während unterdessen Archibald selbst unter Mordverdacht gerät… Nur hat es nie einen Mord gegeben. Und das weiß der Leser schon von Anfang an, und das weiß selbst Jenny, aber wie alles miteinander verzahnt und verwickelt ist, liest sich so köstlich, so brillant, dass man dem Buch die Albernheit keine Sekunde lang übelnehmen mag.
Versucht man, das Genre von Four Days Wonder näher zu definieren, landet man nach einigem Herumgerutsche bei ‘Räuberpistölchen’. Ohne Räuber. Oder ‘Gesellschaftsroman’. Oder ‘Kriminalsatire’. Es ist schwer, die passende Schublade für dieses Buch zu finden, oder die passende Zielgruppe. In unserer Stadtbücherei stand die deutsche Ausgabe, vermutlich Aufgrund des Verfassers und weil der Ravensburger Taschenbuchverlag auf Jugendbücher spezialisiert war, in der Abteilung für Jugendliche ab Zwölf, wo es niemanden interessierte, außer mir natürlich, die ich in dieser Abteilung für Ordnung zu sorgen hatte. Sie haben das Buch heute nicht mehr, weswegen ich vermute, es ist mangels Leserschaft aussortiert worden, um Platz zu machen für neue Bücher. Und das ist so eine Schande! Und so ein tolles Buch! Witzig, haarsträubend, großartig.
Herrlich die Abrechnungen des Autors mit seiner eigenen Zunft: Der pompöse Autor Archibald, der doch immer ein scharfzüngiger Realist sein wollte, ist durch den rabelais’schen Roman ‘Die Schafherde’ zu Ruhm gekommen und kann plötzlich seine Frau und die sechs Kinder werbewirksam vermarkten. Völlig abgekehrt von den ehemaligen Idealen, kämpft er sich nun durch den dritten ‘Schafherden’-Abklatsch und wirkt dabei so unglücklich, wie man sich Milne über einem dritten Pooh-Ableger vorstellen müsste. Und dabei ist Archibald, unter all den liebenswerten oder kauzigen Figuren des Buches, sicher die so ziemlich unsympathischste. Ein kurzer, beleibter Herr von sitzender Tätigkeit – sicher keine schmeichelnde Bezeichnung für das Alter Ego des Autors.
Die eigentlichen Helden, Jenny und Nancy, sind hingegen ihrer Zeit weit, weit voraus und haben das Rollenspiel (weniger Fantasy als mehr historisches Re-enactment) für sich entdeckt – waren sie doch als Gloria Harris und Acetylene Pitt, als Trommelburschen verkleidet, im Geheimdienst Wellingtons aktiv! Und wer schon Napoleon ausgetrickst hat, für den ist auch Scotland Yard kein Problem. Nur, dass es sich in der wahren Natur deutlich schwieriger gestaltet, sich hinter einem Heuhaufen umzuziehen als in der romantischen Literatur, geschweige denn, darunter zu schlafen! Wer einmal mit dem Rucksack durchs ländliche Kent gereist ist, wird sich in den liebevollen Schilderungen wiederfinden.
Dabei wechseln Jenny und Nancy schneller ihre Namen als Cary Grant in Charade oder der bei mir sehr beliebte Albert Campion, für den die am Ende immer noch unverheiratete Nancy Fairbrother/Acetylene Pitt/Alice Pitman sicher eine gute Partie wäre – ach, leider kommen sie in verschiedenen Büchern vor und begegnen sich nie! Aber ich rechne es Milne hoch an, dass er, auch wenn die Literatur seiner Zeit – das Buch erschien erstmal 1933 – es so vorsah, dass ledige Frauen am Ende verheiratet sind, nicht noch einen passenden Bräutigam für sie aus dem Hut zaubert, und sie am Ende immer noch eine selbständige, berufstätige junge Frau ist.
Four Days Wonder schreit geradezu nach einer Verfilmung, und tatsächlich ist es auch schon einmal verfilmt worden – das heißt, es gibt einen Film von dieses Titels von 1936, der sich nicht entblödet, sich als Verfilmung dieses Romans darzustellen. Die Handlung liest sich jedoch etwas anders, hier ist es die dreizehnjährige Amateurdetektivin Judy Windell, die sich unversehens in einem echten Mordfall wiederfindet und ihn zusammen mit dem gleichaltrigen Hobbyastronom Tom Fenton aufklären darf. Judy. Tom. Offenbar spielt der Film in Amerika, und dort heißt man nicht Jenny oder Derek. Und heiraten tun die beiden am Schluss natürlich auch nicht, nicht mit dreizehn. Aber offenbar hatte man einen Kinderstar, Jeanne (klingt doch deutlich mehr nach ‘Jenny’ als ‘Judy’, oder?) Dante, die man mit diesem Film groß rausbringen wollte. Was nicht klappte, der Film floppte, und das gleiche galt für Jeannes Karriere. Also, Regisseure, Obacht: Four Days Wonder schreit nach einer Verfilmung!
Der Misserfolg dieses Buches ist schändlich und unverständlich. Heutzutage wäre der Fall wohl etwas anders verlaufen: Ein Verlag hätte sich angeboten, das Buch zu herauszubringen, aber nur unter einem Pseudonym – Milne, das ist der mit den Winnie-the-Pooh-Büchern, von dem will man sowas doch nicht lesen, aber wir erschaffen Ihnen eine zweite Identität, Sie werden der Newcomer des Jahres, was halten Sie davon…? Aber offenbar ist der Nachhall noch immer zu heftig, der Pooh-Faktor noch heute zu mächtig – auf dem englischsprachigen Markt ist dieses Kleinod des humoristischen Romans seit Jahrzehnten vergriffen, keine Änderung abzusehen. Und auch in Deutschland erschien die letzte Auflage im Jahr 1979. Immerhin ist diese noch antiquarisch erhältlich. Und immerhin läuft im Jahr 2026 das Urheberrecht von Milnes Werken aus. Dann kann ich mich an Neuübersetzung und Neuausgabe machen. Und vielleicht, wer weiß, auch gleich an ein Drehbuch.