Nachdem ich vor zwei Jahren dann doch gescheitert bin in meinem Ansinnen, alle Bücher Margery Allinghams zu lesen und zu rezensieren, nachdem Christoph aus München zurück war und ich keine sechsstündigen Bahnfahrten mehr zu absolvieren hatte, gibt es nun einen neuen Anlauf. Nach wie vor ist meine Begeisterung für diese britische Autorin ungebrochen, und nachdem jetzt Dorothy Sayers bei mir erste Abstriche am Image hinnehmen mußte, widme ich mich nun also wieder ihrer unbekannten Konkurrentin: Und so folgt auf Sayers Erstling nun der erste Kriminalroman Allinghams
Ein böser Nachbar ist ein Roman, der in vielerlei Hinsicht den Vergleich mit ein Toter zuwenig scheuen muss, aber auch mit seinen eigenen Nachfolgern um den undurchsichtigen Privatermittler Albert Campion. Nicht nur ist das Buch mit knapp 160 Seiten deutlich dünner als die meisten Krimis, es ist auch in seiner Entstehungsgeschichte nicht mit einem durchgeplanten, geschriebenen und überarbeiteten Roman zu vergleichen. Vor seiner Veröffentlichung als Buch im Jahr 1928 war The White Cottage Mystery als Fortsetzungsroman im Daily Express veröffentlicht worden, und Trotz einer späteren Überarbeitung durch Allinghams Schwester Joyce, bei der die typischen Was-bisher-geschah-Einführungen am Anfang der einzelnen Kapitel herausgekürzt wurden, bleibt der Kolportage-Charakter des Buches durchgehend spürbar. Aber typisch für Kolportageromane sind nicht nur die sehr kurzen und ziemlich exakt gleich langen Kapitel und oft das Gefühl, dass das Ende nicht so recht mehr zum Anfang passen mag, sondern auch besonders gute Lesbarkeit und Spannung bis zum Schluss – ein Fortsetzungsroman darf sich keine langatmigen Strecken erlauben, auch wenn die Spannung gewöhnlich auf Kosten des Anspruchs geht. So ist auch Ein böser Nachbar leichte Kost – bis hin zu dem äußerst wagemutigen Ende: Denn nach dem Finale hat eine Kolportageautorin nichts mehr zu verlieren.
Anders als die anderen Bücher, die ich mir in den letzten grippelangen Tagen einverleibt habe, hatte ich dieses noch nie zuvor gelesen und darum auch das Vergnügen, bei einem Krimi mitraten zu dürfen. Wobei ich meistens nicht rate – ich habe diese Gabe, einen Plot zu durchschauen, lese ein Buch immer aus Autorenperspektive und stelle mir nicht die Leserfrage »Wer war es?«, sondern folge immer dem Ansatz »Wer wär es, wenn ich dieses Buch geschrieben hätte?«. Und in den meisten Fällen stimme ich mit dem Autor überein – so auch hier. So kühn der Ausgang des Romans auch ist und die Auflösung, wer denn nun das Ekelpaket Eric Crowther ermordet hat: Für mich war das keine Überraschung, sondern die einzig mögliche sinnvolle Lösung – wenn ich mit meinem Mördertip einmal daneben liege, heißt das meistens nicht, dass es ein besonders gutes Buch war, sondern dass ich es einfach besser gekonnt hätte. Ausnahmen erfreuen mich jedes Mal, aber für Ein böser Nachbar muss ich keine Ausnahme definieren.
Ausgangspunkt ist eine klassische Krimisituation: Ein Haus in friedlicher englischer Kleinstadt, sieben Leute drin, ein achter tot, einer wird’s gewesen sein. Aber wer nun erwartet, dass es jetzt mit dem typischen englischen Krimiflair weitergeht, wie wir ihn aus so vielen zeitgenössischen Büchern kennen und Agatha Christie ihn später zur Perfektion gebracht hat, wird enttäuscht oder zumindest verwundert: Denn für mehr als die Hälfte der Handlung entführt uns die Autorin an die französische Riviera – nein, damit hatte auch ich nicht gerechnet – wo man sich über das Budget der britischen Polizei wundern darf, die es zulässt, dass sich der Inspector wochenlang nebst Sohn in einem Hotel einquartiert, um Zeugen zu befragen, die sich gar nicht aus England hätten entfernen dürfen. Und Allingham wäre nicht Allingham, wenn wir ohne ein Gastspiel des organisierten Verbrechens hätten – interessanterweise mit einer Organisation, die sie ein paar Jahre später in Der Hüter des Kelchs erneut thematisieren sollte.
Aber wo Albert Campion ein würdiger Gegner für internationale Verbrecherorganisationen ist, fehlt hier dem nötigen Ermittler das Profil. W.T. Challoner, dessen Vornamen nicht über diese Initialen hinausgeht, steht wenige Jahre vor seiner Pensionierung und ist eher der väterliche Typ – so väterlich, dass er gleich den eigenen Sohn zu seinen Ermittlungen mitnimmt. Darüber hinaus erfährt man nicht viel über ihn – er hat offenbar ein phänomenales Gedächtnis und kann aus dem Kopf auch nach weit über zehn Jahren noch sämtliche Beteiligten eines Einbruchs mit Todesfolge namentlich aufzählen, und im Verhör darf er immer der Gute Bulle sein, der niemals einer falschen Fährte aufsitzt und ein Auge dafür hat, wer der geborene Verbrecher ist und wer hingehen unschuldig sein könnte – wirklich, ein Charakter, der unerträglich ist, wo er nicht blass bleibt, und umgekehrt. Generell scheint Allingham mit der Wahl eines Detective Chief Inspectors von Scotland Yard als Chefermittler keine gute Wahl getroffen zu haben – die Polizeiarbeit wirkt nicht authentisch und scheint mehr so zu sein, wie man sich das als Autor eben so vorstellt, denn wie es wirklich abläuft. Ein kluger Zug war es, Challoner am Ende unwiederbringlich in Rente zu schicken und die späteren Krimis um einen ausgesprochen polizeifernen Privatermittler zu schreiben, der Profil genug für drei mitbringt. Allingham lernt aus ihren eigenen Fehlern. Und in Ein böser Nachbar stecken noch einige davon.
Hemmschuh des Buches ist vor allem W.T.s Sohn Jerry – ein überflüssiger Jüngling, dessen Qualifikation sich während der Lektüre nicht erschließt: Außer der Tatsache, dass er der Sohn des Inspectors ist, hat er nicht viel zu bieten und eigentlich auch keine Anwesenheitsberechtigung inmitten der Ermittlungen. Dafür bietet er jugendlichen Überschwang und soll vielleicht den Lesern als Identifikationsfigur oder Idol dienen, wenn er sich in eine Tatverdächtige verliebt und dem Vater rät, den Fall doch lieber dranzugeben, oder sich dramatisch mit einem mutmaßlichen Schurken prügelt: Ein anständiger Kolportageroman kommt nicht ohne jugendlichen Helden aus, und vergleichbare Figuren finden sich auch in Allinghams späteren Büchern, selbst wenn diese nicht mehr in Fortsetzungen erscheinen mussten – aber hier wirkt er besonders störend.
Natürlich muss man hier wieder den Charakter des Buches bedenken: Autoren von Fortsetzungsgeschichten, vor allem, wenn sie noch keine Romanerfahrung vorweisen können und vorher nur mit mäßigem Erfolg Theaterstücke geschrieben haben – was Allingham nicht geschadet hat, denn lebensnahe Dialoge gehören eindeutig zu ihren Stärken – waren stärkeren Konventionen unterworfen als klassische Romanautoren, deren Werke von Anfang an auf eine Veröffentlichung in Buchform ausgelegt sind. Heute macht es immer noch einen Unterschied, ob ein Drehbuchautor Kinofilme schreibt oder Folgen für Seifenopern: Der Anspruch ist ein anderer, und der Druck ebenfalls. Aber ein richtig gutes Buch muss man lesen können, ohne sich solche feinen Unterschiede vor Augen führen müssen – und ein richtig gutes Buch ist Ein böser Nachbar dementsprechend nicht.
Dieses Buch ist kein Muss, es sei denn, man hat das erklärte Ziel, sich durch Margery Allinghams komplettes Oeuvre zu arbeiten. Es ist ein netter Erstling, lässt in Aufbau und Auflösung durchaus Potenzial erkennen, fällt aber hinter der bald darauf begonnenen Albert-Campion-Reihe deutlich zurück. Aber es liest sich schnell und flüssig und lässt den Leser nicht mit dem hohlen Gefühl von verschwendeter Zeit zurück – stattdessen macht es Lust, doch noch einmal bei nächster Gelegenheit über die Campion-Reihe herzufallen.