Es war Anfang 1998, und ich hatte ein wichtiges Vorstellungsgespräch. An diesem Tag sollte sich entscheiden, ob Frau K. mich als Auszubildende in ihrer Buchhandelsfiliale haben wollte. Ich wollte diese Stelle, unbedingt, und ich war ebenso entschlossen wie aufgeregt, aber bereit, letzteres gut zu vertuschen. Ich war kompetent. Ich war vorgebildet. Dieser Laden, und kein anderer, sollte aus mir genau die richtige Mischung aus Literatur- und Fachbuchhändlerin machen. Routiniert berichtete ich von meinen Verkaufserfahrungen als Teddybärenmacherin auf Kunsthandwerkermärkten und Börsen. Und warum es mich trotz Bibliothekarsdiplom nun doch lieber in den verbreitenden Buchhandel zog. Und so weiter. Bis an einem Punkt des Gesprächs Frau K. mich abrupt fragte: »Sagen Sie – kennen Sie die Mumins?«
Es ist nicht die Frage, die man von einer Fachbuchhändlerin erwartet, und ebenso unvorbereitet wie spontan verwandelte ich mich vom Kompetenzmonster in einen Menschen und antwortete: »Die Mumins? Ich liebe sie, ich bin mit denen aufgewachsen!«
Hätte ich an der Stelle die Stirn gerunzelt und gesagt ‘Ja, früher habe ich die ganz gern gelesen’ oder die Nase gerümpft und gesagt ‘Kinderbücher…’, dann wäre an dieser Stelle wohl alles vorbei gewesen. Es musste ein Test sein, aber das begriff ich erst viele Jahre später, lange nachdem ich meine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte.
»Wer ist Ihre Lieblingsfigur?« fragte Frau K. weiter.
Wieder antwortete ich ohne Zögern: »Der Mumrik«, und setzte erklärend hinterher: »Oder auch Schnupferich.«
Frau K. lächelte. Vielleicht grinste sie auch. »Wissen Sie«, sagte sie dann, »ich mag die kleine Mü am liebsten.«
Und danach, für die Zeit meiner Ausbildung und darüber hinaus, wussten wir beide genau, woran wir beim anderen jeweils waren.
Ich liebe die Mumins, und ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Schon meine Eltern liebten die Mumins (und tun das noch immer). Unsere Meerschweinchen waren nach Geschöpfen aus dem Mumintal benannt. Unser Badezimmer war gestaltet wie die Insel aus Mumins Inselabenteuer. Manche Muminbücher habe ich bestimmt ein Dutzendmal gelesen. Die japanische Zeichentrickserie aus den späten Achtzigern, mit dem Titellied von Vader Abraham, habe ich gehasst, weil sie nicht authentisch genug war und die großartige Philosophie der Tove Jansson nicht einfing. Aber bis ich mir mein erstes eigenes Muminbuch kaufen sollte, müsste ich erst dreiunddreißig Jahre alt werden. Nun also besitze ich, endlich, Komet im Mumintal, das Buch, mit dem für mich alles anfing.
Es ist nicht das erste Buch der Reihe, aber für mich das erste ‘richtige’, denn Mumins lange Reise erschien erst, als ich in der Oberstufe war, und viele der wichtigen Figuren (eigentlich alle außer Mumin und seinen Eltern) kommen dort noch nicht vor. Komet im Mumintal las ich das erste Mal mit acht oder neun Jahren, als man mir noch erklären musste, was ein Komet ist und dass es nicht »Kommet ins Mumintal« hieß. Ein spannenderes Buch hatte ich noch niemals gelesen. Einige der anderen Mumingeschichten kannte ich schon früher, vom Vorlesen, aber der Komet ist so spannend, dass acht Jahre wirklich das früheste Alter ist, in dem man damit anfangen sollte. Aufhören dagegen… Aufhören darf man mit diesen Geschichten niemals.
Was soll schon so Besonderes daran sein – ein schreckliches Übel droht wie Welt zu zerstören, und eine Handvoll kleiner Geschöpfe zieht aus, um das zu verhindern – hatten wir das nicht schon tausendmal? Hatten wir das nicht schon tausendmal vor 1946, als dieses Buch erstmalig veröffentlicht wurde? Ist das nicht furchtbar abgedroschen? Nein. Nichts an diesem Buch ist abgedroschen, keine einzige Zeile. Und ich könnte jetzt damit anfangen, aus diesem Buch in seiner ganzen wundervollen Pracht zu zitieren, aber das kann man mit Büchern machen, die ein paar gute Sätze haben – nicht mit Büchern, die nur aus guten Sätzen bestehen. Ich müsste es komplett abschreiben, oder versuchen es auswendig wiederzugeben, und in jedem Fall würde ich damit alle Grenzen des Zitatrechts sprengen und in übelstem Maße gegen das Urheberrecht verstoßen.
Da ist der Bisam, der über das Unnütze philosophiert und dabei genau weiß, dass es besser ist, in einem guten Loch zu leben als in irgendeinem Loch, und der, vergleichbar mit Harald Lesch, die Bedeutung des Weltuntergangs anhand eines weggeworfenen Butterbrot erläutern kann, und von dem mein langjähriges Lieblingszitat stammt: »Geh spielen, kleines Geschöpf. Spiel, solange du kannst.« Da ist der Schnupferich, der seine Freiheit mehr liebt als Dinge und bei dem ein Hosenkauf schon mal daran scheitert, dass die neue Hose ihm doch zu neu ist. Da sind die Hemule, die so sehr das Wesen eines Sammlers personifizieren, dass der Einschlag eines Kometen neben einer in Unordnung geratenen Briefmarkensammlung zur Nebensächlichkeit verblasst. Da ist der Snork, der ganz analytisch und wissenschaftlich versucht, den Weltuntergang zu organisieren. Da ist das ebenso eigensüchtige wie großkotzige kleine Tier Schnüferl, dem plötzlich ganz uneigennützig ein noch kleineres und eigensüchtigeres Tier ans Herz wächst, und da ist Mumin selbst, ein pragmatischer Träumer, der das Abenteuer sucht und weiß, dass man, wenn es gefährlich wird, Butterbrote mitnehmen muss…
Das Mumintal und seine Bewohner sind kein Mikro- sondern ein Makrokosmos. Auch wenn es alles kleine Geschöpfe sind, die dort leben, und die Trolle nicht dem entsprechen, was sich der moderne Rollenspieler oder Fantasyleser darunter vorstellt – alle Figuren sind echte Personen, so echt, dass ein Leser schon glauben muss, Tove Jansson habe sie nicht nach ihrem eigenen Bekanntenkreis modelliert, sondern nach seinem. Jeder kann hier seine eigene Identifikationsfigur finden, wie ich im Mumrik oder Frau K. in der Kleinen Mü, jeder erkennt auch alle anderen Figuren wieder. Mit dem Schnüferl ist meine Schwester zur Schule gegangen. Eine der Bibliothekarinnen aus meiner alten Stadtbücherei war eine Filifjonka. Christoph ist doch manchmal sehr Snork. Wir sind Mumin.
Kritik… Ja, Kritik gibt es auch. Das Geschlechterrollenbild der Tove Jansson war zum Zeitpunkt dieses Buches noch eindeutig ausbaufähig. Denn die beiden einzigen zur Verfügung gestellten weiblichen Figuren – die unendlich gute, immer besonnene, verständnisvolle Muminmutter, die zwar die Lieblingsfigur meiner eigenen ist, ist mir zu stereotyp und bekommt auch später nicht das Entwicklungspotenzial ihres Gatten oder Sohnes. Und das Snorkfräulein, dümmlich, flatterhaft, ängstlich und eitel, ist mein Ding auch nicht. Hätte Tove Jansson uns nicht später mit der Kleinen Mü beglückt, oder mit Tooticki, oder der Misa, der Theater-Emma und all den anderen liebevoll-ambivalenten Frauensgestalten, wäre sie doch in meiner Achtung sehr gesunken. So aber kann ich sie preisen als eine der großartigsten Autorinnen von Kinderliteratur für das ganze Leben, und ich habe lange, lange mit mir gerungen, ob ich diese Rezension nun unter Kinderbuch oder Weltliteratur eingruppieren sollte – bis ich gemerkt habe, dass ich auch einfach beides auswählen kann. Und ein größeres Kompliment kann ich einem Buch nicht machen: Ein Buch für die Kinder, und für die Welt, und für jeden.