Mein Vater war Lehrer in der Jugendpsychiatrie – bevor er pensioniert wurde, heißt das. Er hatte eine ganze Reihe verhaltensauffällige Achtklässler, Kinder aus verkorksten Elternhäusern, vernachlässigte Schulschwänzer, das ganze Spektrum jugendlichen Elends. Sicherlich auch Schüler wie Maik oder Tschick. Ich glaube nicht, dass er dieses Buch lesen möchte. Nicht, weil er so froh ist, diese Welt hinter sich gelassen zu haben, als der Schuldienst vorbei war, aber weil er das nicht auch noch mit nach Hause nehmen will. Er war immer bewundernswert gut darin, über den Dingen zu stehen und das nicht an sich heranzulassen, anders als ich, weswegen ich keine Lehrerin geworden bin und das erst recht nicht in der Psychiatrie. Ich nehme mir immer alles furchtbar zu Herzen, und darum hat auch dieses Buch mich stellenweise ziemlich fertiggemacht, obwohl es ein Jugendbuch ist und ich eine lang erwachsene Frau.
Ein Roadmovie sollte es sein, versprach der Klappentext, quer durch die ostdeutsche Provinz, »unvergesslich wie die Flussfahrt von Tom Sawyer und Huck Finn.« Darüber habe ich mich natürlich aufgeregt, ich rege mich immer auf, wenn irgendwo Blödsinn steht, denn natürlich war mitnichten Tom Hucks Reisekamerad auf der Floßfahrt, sondern der Sklave Jim. Zur Ehrenrettung der Büchergilde, bei der ich Tschick erstanden habe, ist das zumindest in der Beschreibung im Onlineshop inzwischen korrigiert. Ich bin also offenbar nicht der Einzige, der sich da aufgeregt hat. Trotzdem, da ich Huckleberry Finn sehr gerne mag (und das viel, viel lieber als Tom Sawyers Abenteuer, hat mich doch dieser Vergleich dazu bewogen, das Buch zu kaufen. Normalerweise bin ich nämlich kein Freund von Roadmovies und Bücher für Jungen, die sich zu sehr bemühen, in Alltagssprache geschrieben zu sein. Aber ein tragikomisches Jugendbuch, das auch für Erwachsene toll sein soll – das habe ich mir dann doch nicht entgehen lassen.
Normalerweise hasse ich Bücher, die das Ende vorwegnehmen und dann das Pferd vom Schwanz aufzäumen. Das mag ein Kunstgriff sein, aber mir nimmt es die Spannung aus der Geschichte. Auch sehr beliebt mit Fernsehserien, in denen die Folge mit den Helden in auswegloser Situation beginnt (in Gefangenschaft, radioaktiv verseucht oder lebendig begraben), und die nächste Szene ist beschriftet mit »Drei Tage früher«. Wirklich, sowas kann ich nicht ausstehen, und darum hat dieses Buch, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, auch erstmal zwei Monate auf dem Stapel gelegen, ehe ich weiterlesen mochte. So beginnt Tschick also mit dem vierzehnjährigen Maik nach dem Unfall, der den geklauten Lada und Maiks Wade zerlegt hat, in Polizeigewahrsam, und dann wird aufgedröselt, wie es so weit kommen konnte. Er – Maik ist ein Icherzähler – holt weit aus dafür, so weit, dass das eigentliche Roadmovie erst nach knapp der Hälfte des Buches überhaupt erst beginnt. Und ehrlich gesagt, fand ich diese erste Hälfte auch stärker als die Zweite.
Wir haben also zwei Jungen mit großem sozialen Gefälle. Maik, vorgeblich aus reichem Haus – in Wirklichkeit ist die väterliche Firma pleite – der Langweiler, der Niemand, der Uninteressante, dessen alkoholkranke Mutter vom Vater vor allem deswegen in Entziehungskur geschickt wird, damit der sich in Ruhe ein paar schöne Wochen mit der Sekretärin machen kann, unter Zurücklassung des Sohns am Pool der Villa. Auf der anderen Seite Andrej alias Tschick, der Russe, der offenbar irgendwie intelligent sein muss, weil er sich von der Sonderschule bis aufs Gymnasium hochgearbeitet hat, aber in irgendeinem Assihochhaus wohnt, schäbige Klamotten trägt und im Matheunterricht schon mal vom Stuhl fällt, weil er mit dem Trinken nicht bis nach dem Unterricht warten kann. Alkohol auf beiden Seiten, da hätte man jetzt ein echtes Problembuch draus machen können, aber das vermeidet Autor Herrndorf gezielt.
Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde heißt ein Klassiker der soziologischen Literatur, ungeachtet der Tatsache, dass der Junge raucht, und die Antwort ist, dass er stattdessen seine Sehnsüchte und Träume auslebt. Und vielleicht kann man auch damit erklären, dass Tschick, kaum dass er sich mit Maik angefreundet hat, zwar noch das eine oder andere Bier trinkt, aber doch die ganze Zeit nüchtern bleibt. Da Herrndorf einiges über das Wesen der Sucht zu wissen scheint, hat mich das schon ein wenig gewundert, aber vielleicht wollte er nicht, dass sich ein anderes Thema zum Hauptmotiv aufbauscht als die Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Jungen. So wird es eigentlich nie als Problem thematisiert, und selbst im Suff ist Maiks Mutter ein angenehmerer Umgang als der Vater, der wirklich nicht gut wegkommt bei der Geschichte.
Es ist auch alles menschlich sehr glaubwürdig, wie der unauffällige Maik lernt, im Leben Spuren zu hinterlassen, und, vielleicht dank des Hinweises, er wäre noch nicht strafmündig, auch vor Verbotenem nicht zurückschreckt. Warum ihm allerdings Tschick genau das auf die Nase bindet, wenn der Junge selbst vorbestraft ist und weiß, dass man das mit Vierzehn sehr wohl schon ist und nicht etwa erst mit Fünfzehn wird, habe ich nicht verstanden, denn Tschick ist kein Arschloch, das andere in die Scheiße reiten möchte. Auch ist es ziemlich seltsam, dass die Jungen lieber stundenlang eine Müllkippe auf den Kopf stellen, um einen Schlauch zum Benzinklauen zu finden, als einfach einmal zu versuchen, an der Tankstelle normal zu zapfen. Und auch das Bezahlen wäre sicher möglich, ohne groß aufzufallen, wenn Maik so tut, als habe sein Vater ihn gebeten, das zu übernehmen, wenn der Junge schon unbedingt ein Eis haben will… Und so sind viele Szenen in dem Roadmovie-Teil: Spannend und abenteuerlich, aber nicht unbedingt realistisch – ob sie nun beschossen werden oder eine Frau Tschick einen Feuerlöscher auf den Fuß fallen lässt, nach der sehr lebensnahen Einführung war das für mich ein klares Nachlassen.
Geschrieben ist das Buch jedenfalls gut. Ich war erst skeptisch, als ich gesehen habe, dass es in Jungendsprache verfasst ist, geschädigt durch Ich, ganz cool von Kirsten Boie, die es wirklich übertrieben hat mit dem Ey, Boah, Ey, aber es liest sich flüssig, lebendig und sympathisch. Man mag Maik und Tschick, beides sehr plastische, echte Figuren, und ich habe wirklich mitgefiebert. In echt hätte ich Tschick vermutlich nicht ausstehen können, wir hatten so einen in der Oberstufe, zwar ein Pole und kein Russe, aber der Rest kommt hin, und auch mit Maik hätte ich als Klassenkameradin nicht viel anfangen können. Aber in diesem Rahmen, in dieser Geschichte, habe ich mich so gut in die beiden hineinversetzen können, dass es mir stellenweise echt das Herz gebrochen hat. Ich hatte ja schon mehrmals in diesem Blog Jugendbücher, die sich eigentlich an Erwachsene richteten, und in diese Kategorie ordne ich jetzt auch Tschick – denn ob man ausgerechnet den notorisch lesefaulen männlichen Jugendlichen mit so einer Story kriegt, wage ich doch zu bezweifeln.
In jedem Fall ein gutes Buch, um wieder mit dem Rezensieren anzufangen, und wieder mit dem Lesen. Es ist nicht zu lang mit seinen 253 Seiten – da habe ich noch ganz andere Sachen vor mir, denn der Stapel ist gut gewachsen in der letzten Zeit, ich kann nicht lesen, wenn ich Arbeit habe, aber heute war mein letzter Tag, und meine Zukunft ist genauso offen wie das Ende des Buches. Das, um den Faden zur Anfangsszene wieder aufzunehmen, mir gut gefallen hat und mich für den Anfang entschädigt. Da hatte dann auch endlich der Realismus die Geschichte wieder eingeholt, und putzig, wie jetzt bei jedem geklauten Lada im Osten Berlins gleich die beiden Jungs in Verdacht kommen – dabei war der Lada ja gar nicht geklaut, nur ausgeborgt… Aber ich will nicht zu viel verraten. Tschick ist ein lesenswertes Buch, zu dem ich jedem interessieren Leser raten kann – nicht nur denen, die Huckleberry Finn mögen.