Lange wusste ich nicht, wie und wo ich dieses Buch einsortieren sollte. Zafón schreibt Phantastik, wird aber allüberall unter ‘Literatur’ geführt – was für mich kein Widerspruch ist, aber schon von der Aufmachung des Buches her, sowohl in der regulären Ausgabe als auch in der Büchergilden-Ausgabe, die ich besitze und die, für die Büchergilde untypisch, keinen Schönheitspreis gewinnt, sieht das nicht nach Fantasy aus. Es geht um ein geheimnisvolles Haus, um mechanische Puppen, und damit hat es eigentlich alles, was ich liebe: Wenn es dann auch noch literarisch anspruchsvolle Fantasy ist, müsste ich eigentlich restlos begeistert sein. Und doch, als ich endlich am Ende des dicken, aber großgedruckten Buches angekommen war, wollte sich weniger Begeisterung einstellen als mehr ein generell schaler Geschmack.
Nachdem es mehr als ein Jahr ungelesen im Regal gestanden habe, ging das eigentliche Lesen dann sehr schnell, auf der Rückfahrt von München. Die Geschichte einer Witwe mit zwei Kindern, die Arbeit findet im Haus eines geheimnisvollen, zurückgezogen lebenden ehemaligen Spielzeugfabrikanten, in dessen Haus es vor Automatoi nur so wimmelt und in dem ein Flügel niemals betreten werden kann, benutzt die klassischen Mystery-Motive, mit denen ich auch gerne spiele. Die Rolle der jungen Unschuld wird hier von der halbwüchsigen Tochter übernommen, für die auch gleich ein kerniger Bursche in Gestalt des schweigsamen Fischers bereitsteht, und als dann das Dienstmädchen eines ebenso tragischen wie geheimnisvollen Todes stirbt und ein altes Tagebuch auftaucht, kommt ein altes Übel aus der Vergangenheit wieder ans Tageslicht… Blah. Der Plot bietet nichts, was das Buch aus dem üblichen Horrorhaus-Einheitsbrei hervorheben würde, und der literarische Ruhm des Buches erscheint mir wie unbegründete Vorschusslorbeeren.
Vielleicht bin ich negativ voreingenommen wegen des Namens der Heldin. Irene, so heißt meine Großmutter, und es kann sein, dass ich deswegen Probleme habe, mir ein junges Mädchen dieses Namens vorzustellen. Dafür kann der Autor nichts, natürlich. Aber für die anderen Namen schon. Dass der enigmatische Spielzeugerfinder Lazarus Jann heißt – Lazarus, ausgerechnet, als ob ich den nicht gerade erst in Dreamhunter gehabt hätte – verrät letztlich viel zu viel. Und dass der Junge Ismael und seine Cousine Hannah jüdische Namen haben in einem Buch, das immerhin am Vorabend des zweiten Weltkriegs spielt, wird nicht weiter thematisiert – alles in allem keine typischen Namen für die Normandie, vermute ich, aber niemand geht darauf ein.
Auch sprachlich konnte mich das Buch nicht überzeugen. Ich glaube nicht, dass es an der Übersetzung aus dem Spanischen gelegen hat – Spanisch kann ich keines, darum bin ich hier auf deutsche Ausgaben angewiesen – aber der oftmals schlampige Umgang mit Perspektive hat mich gestört. Vor allem, wenn die Heldin in ihrer eigenen Sicht immer wieder als ‘das Mädchen’ bezeichnet wird: Bitte, welcher Mensch, der seinen eigenen Namen kennt, würde von sich als dem Mädchen oder Jungen, Mann oder Frau denken, auch wenn der Autor damit in die Verlegenheit kommen könnte, dass ihm die Synonyme ausgehen? Auch gibt es hier unvermittelte und unmotivierte Perspektivensprünge, um den Leser in Szenen zu bringen, von denen Iréne nicht weiß, und das geht auf Kosten der Spannung. Als Leser will ich nicht alles wissen, aber ich will mir alles denken können.
Ob Zafón als Literat so über den Dingen steht, dass er sich um Dramaturgie und Spannung keine Gedanken mehr machen muss, weiß ich nicht. Aber auch er ist sich nicht zu schade, ein völlig unmotiviertes Kapitel vorzuschalten, dass das Ende vorwegnimmt, und damit ist dann nicht mehr die Frage, wie es ausgeht, sondern nur noch, wie man dahinkommt. Es wirkt nicht poetisch oder schön, und sich dann auch noch des Motivs des Briefs zu bedienen, wirkt so altbacken und abgedroschen wie nur irgendwas. Auch wenn dann mit einem zweiten Brief als Epilog der Kreis wieder geschlossen wird: Das eine wie das andere hätte man besser ersatzlos gestrichen. Dass Der dunkle Wächter Teil einer Trilogie ist, habe ich erst hinterher entdeckt, aber die drei Bücher scheinen inhaltlich nicht viel miteinander gemeinsam haben. Vielleicht gehören diese Briefe zu einer buchübergreifenden Rahmenhandlung. Aber selbst wenn, sollten sie nicht so unmotiviert daherkommen, und die Lust auf die anderen Bücher der Schatten-Reihe ist mir auch erst einmal vergangen.
Aber was das Buch so ärgerlich gemacht hat, ist seine unglaubliche Durchsichtigkeit. Der Plot ist abgedroschen, das Geheimnis von Lazarus’ siecher Gemahlin so naheliegend, dass wir es bei Poe schon hundertmal und das besser hatten, und der Showdown am Schluss so übel, dass er auch ein besseres Buch ruiniert hätte. Da wirft das Buch mit einem Mal alle Subtilität über den Haufen und lässt die Helden von mechanischen Killer-Engeln jagen, schwarze Schatten, wie ich sie in Computerspielen überzeugender gesehen habe, sind allüberall, und dass dann auch noch das schöne alte Haus abbrennt, wissen wir ja schon aus dem Vorspann. Bis dahin hätte ich das Buch fast gemocht. Aber diese unnötige Action-Orgie, während derer die Perspektive von einem zum anderen springt und versucht, überall gleichzeitig zu sein, dass wirklich kein Geheimnis offenbleibt, ist übel, und dass am Ende das Geheimnis nicht scheibchenweise aufgedeckt wird, sondern mit einem endlosen Monolog, ist auch eines gerühmten Literatren unwürdig.
Dabei ist es kein neues Buch, erstmalig erschienen 1995, wurde es erst in der letzten Zeit ins Deutsche übersetzt. Über die aktuelleren Werke Zafóns will ich mir also kein Urteil bilden. Aber es ist üblich auf dem Buchmarkt, wenn ein späteres Buch eines vorher unbekannten Autors in Deutschland ein Erfolg wird, schnell sein gesamtes Oeuvre auf den Markt zu werfen, was dann oft den Eindruck erweckt, dass auf ein großartiges Buch ein schwaches folgt und der Autor seine Versprechen nicht halten kann – wenn das schwache Buch in Wirklichkeit nur eine alte Kamelle ist. In sechzehn Jahren kann sich ein Autor meilenweit entwickeln, und an ein aktuelleres Buch Zafóns, Das Spiel des Engels von 2004, werde ich daher unvoreingenommen herangehen. Gut möglich, dass er heute ein toller Autor ist. Nur 1995 war er es, in meinen Augen, noch nicht so sehr.
Was ich auch nicht verstehe, ist, warum auf so ziemlich jeder Ausgabe von Las Luces De Septiembre – was ein schönerer Titel ist als Der Dunkle Wächter, was das betrifft – ein Leuchtturm abgebildet ist. Der Leuchtturm kommt vor, aber er spielt so eine kleine Rolle – natürlich, er ist geheimnisumwittert, und sie finden dort das alte Tagebuch, und die maskierte Fremde soll in seiner Nähe ertrunken sein – aber er ist letztlich nicht handlungsrelevant. Nicht so sehr wie das Haus, oder die Automatoi. Er ist auch mitnichten der titelgebende dunkle Wächter. Aber das ist eine Frage, die ich nicht an den Autor stellen muss, sondern an die Verlage, die Illustratoren, das Marketing. Wenn die Absicht ist, das Buch nicht wie ein klassisches Gruselhaus-Buch aussehen zu lassen, ist das gelungen. Doch unterm Strich muss man sagen, dass dieses Buch dem Mysterygenre nicht weit entkommen kann, und mit einem Haus auf dem Cover sicher zielgruppengerechter hätte vermarktet werden können. Es ist nicht schlechter als andere Bücher mit geheimnisvollen Häusern. Es ist nur eben leider auch nicht besser.