Ich lese keine Kurzgeschichten, noch nicht einmal kurze Geschichten. Wenn ein Plot nicht langsam und sorgfältig aufgebaut wird, die Figuren keinen Platz für Entwicklung haben, kann ich mich auch nicht dafür begeistern. Zwei Ausnahmen gibt es aber: Das eine sind bissige Satiren von Roald Dahl, Hermann Harry Schmitz oder Jaroslav Hašek, das andere sind Gruselgeschichten. Beides fand ich in meiner Jugend in ausreichender Menge auf unserem Gästeklo – ich glaube, meine Eltern sind die einzigen, die ein Bücherregal mit fünf oder sechs Brettern über der Toilette installiert haben, und da ich dafür berüchtigt war, alles zu lesen, was mir in die Hände fiel, standen die Gruselgeschichten ganz, ganz oben, dass ich auf der Kloschüssel und Zehenspitzen stehen musste, um sie zu erreichen, was mich aber nicht davon abgehalten hat, eine langjähriges Liebe zu allem Gruseligen zu entwickeln.
Ich unterscheide zwischen Grusel und Horror. In Horrorgeschichten verfolgen uns lebende Leichen mit heraushängendem Gedärm, und ich habe nur ein müdes Gähnen für sie übrig. Aber mit guten Gruselgeschichten fresse ich vor Angst meine Fingerkuppen und traue mich nachts nur dann ins Badezimmer, wenn auch wirklich alle Lampen auf dem Weg dorthin brennen – sie gewinnen ihren Schrecken dadurch, dass meistens eigentlich gar nichts passiert, man aber jeden Moment damit rechnen muss. Und deswegen ist das mit Gruselgeschichten für Kinder so eine Sache. Es gibt sie nicht. Kindgerechter Horror ist, wenn die Zombies nebenbei noch lustig sind. Aber vermeintlich kindgerechter Grusel verursacht die gleichen Alpträume, das gleiche Entsetzen wie bei Erwachsenen. Angst ist Angst, und eine Gruselgeschichte, die keine Angst machen will, ist keine Gruselgeschichte. So sind die schrecklichsten Bücher meiner Kindheit das Leselöwen Gespensterschloss und das Grusel-ABC von Ingrid Uebe – beide richten sich an Leseanfänger, haben mir aber noch als Teenager das Blut gefrieren lassen – und eine nette Sammlung mit Namen Wenn du dich gruseln willst von Angela Sommer-Bodenburg. In die gleiche Richtung gehen Uncle Montague’s Tales of Terror
Wie so oft bei Gruselbüchern, die nicht als Anthologie die Geschichten vieler Autoren vereinen, gibt es auch hier eine Rahmenhandlung. Das mag sich so eingebürgert haben, ich brauche sowas aber nicht, mir geht es um die Geschichten selbst, nicht um die Umstände, unter denen sie erzählt werden. Zwar kann man so versuchen, einen roten Faden in das Buch zu bringen, aber ich war noch nie ein Freund von Rahmenhandlungen. Sie sind durch die eigentlichen Geschichten verstümmelt und auseinandergerissen, liebe lese ich ein ganzes, richtiges Buch oder eine unzusammenhängende Geschichtensammlung. Und so schaurig auch Onkel Montagues Haus sein mag, sein Diener Franz, den man nie zu Gesicht bekommt, oder der dunkle Wald, der das Haus umgibt – ich bin nicht wegen dem Onkel hier, sondern wegen seinen Geschichten. Und die sind Grusel vom Feinsten.
Das, was Gruselgeschichten für Kinder oft schlimmer und entsetzlicher macht als Gruselgeschichten für Erwachsene ist, dass sie, um der Zielgruppe entgegenzukommen, jugendliche Protagonisten haben. Und da die Gruselgeschichten selten gut enden und die Hauptfiguren gerne am Ende nicht mehr am Leben sind, zeichnen sich die kindgerechten Gruselgeschichten dadurch aus, dass in ihnen arme, unschuldige Kinder auf entsetzlicher Art zu Tode kommen. Traumhaft! Natürlich, über das ‘unschuldig’ kann man in Uncle Montague’s Tales of Terror streiten. Ähnlich wie man es von Roald Dahl kennt, ist hier doch kaum jemand darunter, der sein schreckliches Ende nicht irgendwie verdient hätte – da sind ungehorsame Kinder, die eindeutige Verbote missachten, oder kurzgeratene Kleinkriminelle, aber auch harmlose kleine Kerle von nebenan, die nicht wissen, auf was sie sich einlassen, bis sie eben am Ende tot sind. Kinder, habe ich mir sagen lassen, lieben sowas.
Neun Schauergeschichten versammelt das Buch, und sie steigen und fallen mit ihrer Vorhersehbarkeit. Vorhersehbar und Grusel verträgt sich eben nicht. Aber meistens trifft Autor Priestley doch den Ton genau, das Tempo stimmt, der Grusel steigt sanft an, und auch wenn man weiß, dass es nur schlimm enden kann, weiß man doch nicht, wie und wieso. Diejenigen Geschichten, die den subtilen Grusel mit typischen Horror-Elementen zu mischen versuchen, sind erwartungsgemäß die schwächeren, gegenüber denen, wo man bis zum Ende nur ahnen kann, um was es überhaupt geht, aber durch die geringe Anzahl der Geschichten bleiben uns Wiederholungen erspart. Ausgerechnet eine meiner Lieblingsgeschichten, ‘The Gilt Frame’, ist am Ende eine Seite zu lang und wird dadurch ruiniert, dass nach der Auflösung mit Knalleffekt eben nicht Schluss ist, sondern noch zu viel erklärt wird, aber grundsätzlich legt Priestley schaurige Punktlandungen hin.
Grundsätzlich laden Gruselgeschichten zum Illustrieren ein, und gerade die für Kinder erscheinen gerne in liebevoller Aufmachung mit stimmungsvollen Bildern, die oft noch schrecklicher sind als die Geschichten selbst. Mit einem Bild aus dem Grusel-ABC konnte ich meine Schwester jahrelang in Angst versetzen, ein Bild aus dem Leselöwen-Gespensterschloss traue ich mich bis heute nicht anzusehen, und in einer Rotfuchs-Gruselanthologie war eine Illustration zu Algernon Blackwoods ‘Die Puppe’, die meine Schwester und ich einstimmig für eines der gruseligsten Bilder der Welt gehalten haben. Die Bilder in Uncle Montague’s Tales of Terror fallen nicht in diese Kategorie. Sie sind stimmungsvoll, verraten nicht zu viel und deuten mehr an, als dass sie zeigen, aber sie haben den leichten Federstrich eines Edward Gorey, der uns in The Gashlycrumb Tinies sechsundzwanzig Kinder mit den Buchstaben des Alphabets erst nahe- und dann umgebracht hat. David Roberts kann diesen Einfluss nicht verleugnen, was aber der Qualität seiner Bilder keinen Abbruch tut.
Geschichten, Aufmachung, Illustrationen – alles toll. Wenn es eine Sache gibt, die dieses Buch runterzieht, ist es ausgerechnet die Rahmenhandlung. So sehr ich auch geheimnisvolle Häuser liebe, so schön es auch ist, wenn Onkel Montague sagt »You would not like it here after dark…« – die rechte Spannung will nicht aufkommen, und ich habe die verbindende Rahmenhandlung meistens überflogen, um wieder an die eigentlichen Geschichten zu kommen. Schön ist, dass die Geschichten nicht willkürlich gestreut und erzählt sind, sondern an unheimlichen oder seltsamen Gegenständen aus Onkel Montagues Sammlung aufgehängt werden, sozusagen eine gruselige Version von Robert und Almut Gernhardts Der Weg durch die Wand oder der Kindersendung Siebenstein. Aber zu schnell kann man sich zusammenreimen, was es mit den Kindern auf sich hat, die Edgar auf dem Weg zu seinem Onkel belauern, und die letzte Geschichte des Buches, die Auflösung von Onkel Montagues Geheimnis, ist zugleich die schwächste von allen, in der weder Spannung noch Schauder aufkommen will.
Drei Bände seiner Tales of Terror hat Chris Priestley veröffentlicht und dann die weise Entscheidung getroffen, dass das erstmal genug sein soll – sonst nutzt sich der Effekt zu schnell ab, und Wiederholungen schaden Gruselgeschichten ungemein. Die beiden anderen Bände haben jeweils ihre eigene Rahmenhandlung, von Edgar und Onkel Montague hören wir nach diesem ersten Buch nichts mehr, was gut ist, denn diese Geschichte ist zu Ende erzählt. Ich werde mir auch nicht nehmen lassen, mir Tales of Terror from the Black Ship und Tales of Terror from the Tunnel’s Mouth einzuverleiben, vor allem jetzt, wo der Herbst da ist und der Winter vor der Tür steht, manche Geschichten passen einfach nicht in den Hochsommer oder Frühling, und ich hoffe, dann wieder genauso liebevoll gegruselt oder gleich in Angst und Schrecken versetzt zu werden wie mit diesem Buch.
Und ich hatte schon gedacht, die klassische Gruselgeschichte gäbe es nicht mehr! Hier bin ich eines Besseren belehrt worden. Geschichten, die mich so sehr Montague Rhodes James denken lassen, dass der Name des Onkels sicherlich keine Shakespeare-Anspielung ist, und die mich meinen in fünfundzwanzig Jahren zusammengetragenen Schatz von Schauergeschichten noch einmal von vorne bis hinten lesen lassen wollen. Grusel funktioniert eben, wenn man nicht gerade Shirley Jackson heißt, doch am besten in kleinen Portionen. Ich rate nur dazu, sie eher im Bett zu lesen als auf dem Klo – wenn man sich gruseln will, kommt es eben doch auf die richtige Umgebung an.