Catherynne M. Valente: The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making

Manchmal, in ganz besonders kostbaren Momenten, hat man ein schlechtes Gewissen für jedes Wort, um das eine Rezension länger ist als »Lies dieses Buch! Sofort!«, weil man so den Leser von der Lektüre dieses Kleinods abhalten könnte – da ist jede Sekunde zu viel, da muss der Leser sich sofort drauf stürzen wie ein Verhungernder auf ein Fischbrötchen und es dann mit jeder Zelle seines Körpers und Gehirns verschlingen, lesen und genießen. The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making ist so ein phantastisch gutes Buch, und hier fühlt sich schon der Titel zu lang an, steht wie ein Hindernis zwischen Leser und Buch: Wieviel schneller könnte man sich doch darüber hermachen, wäre der Titel nur ein wenig kürzer! Und doch muss dieser lange Titel sein, und ist dieser lange Titel selbst schon ein Vorgeschmack auf das Innere des Buches, bild- und wortgewaltig und so schön, dass man davon weinen muss. Für mich gehört dieses Buch in eine Reihe mit einem meiner absoluten Lieblingsbücher, Alice’s Adventures in Wonderland, und es darf neben ihm stehen und muss sich nicht dahinter verstecken, so gut, so großartig ist es.

Alles an diesem Buch ist toll. Wie es in der Hand liegt, wie es sich anfühlt, der Schriftsatz, die wunderschönen Illustrationen… Noch bevor ich auch nur ein Wort gelesen hatte, hoffte ich, dass auch der Inhalt mitspielen würde: Dass ich ein neues Lieblingsbuch gefunden hatte. Und ich wurde nicht enttäuscht. The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making hat einfach alles, und es ist für alle, für Kinder wie Erwachsene, für Romantiker und Satiriker, und es ist eines von der Sorte, die man ganz, ganz oft lesen kann. Mit jedem Wort, jedem Satz entfaltet sich eine neue Welt, und man kann nicht anders, als sich selbst vor die Entscheidungen zu stellen, die das Mädchen September treffen muss: Was zu verlieren ist das geringste Übel – den Weg, den Verstand, das Leben, oder das Herz? Und so laut man schreien möchte, als sich September, wie alle Kinder ziemlich herzlos, ausgerechnet für letzteres entscheidet, merkt man doch spätestens am Ende des Buches, dass man auch selbst genau das getan hat: Man hat sein Herz verloren an dieses tapfere und doch gar nicht so herzlose Kind, an die Sprache, die Welt, und an jede der großartigen Figuren in dieser Geschichte, kurz, an das ganze Buch.

Da ist der charmant-schurkische Grüne Wind, der September aus ihrem Elternhaus in Omaha entführt, wo sie alleine das Geschirr spülen muss, während der Vater im Weltkrieg kämpft und die Mutter in der Fabrik den Schraubenschlüssel schwingt; da sind die drei Hexen, die sich wünschen, dass die grausame Herzogin den Löffel abgibt und das nicht im übertriebenen Sinn; da ist der liebenswerte Seifengolem Lye und natürlich A-bis-L, der Lindwurm, dessen Vater eine Bibliothek war und mit dem ich ganz eindeutig verwandt sein muss, und die Herzogin selbst, die einen prachtvollen Hut hat und am Ende doch eine traurige Geschichte, sowie all die unzähligen kleinen und großen Geschöpfe, die das Feenland bevölkern mit all seinen Schrecken und Gefahren und Verzückungen, dass man gar nicht herauskommen möchte aus dem Aufzählen, was alles so gut gefallen hat an dieser Geschichte. Vieles ist böse und manches sogar grausam, ganz so, wie es Kinder sein können und Feen, und die Regeln dieser Welt sind nur dazu da, gebrochen zu werden, damit man einen Grund hat, die armen Dinger auf drastische und entsetzliche Weise zu bestrafen. Das ist nicht schön, und doch wundervoll.

Eigentlich erzählt dieses Buch nur von einer klassischen Queste: Kind aus unserer Welt kommt in magisches Land, muss dort Abenteuer erleben, macht eine Rundreise, besiegt die böse Herzogin und kommt am Ende wieder nach Hause. Und doch ist es so viel mehr. Um die klassischen Elemente herum spinnt Catherynne M. Valente – nicht verwandt und nicht verschwägert mit Katharina Valente, der Schlagersängerin – ein schillerndes Kunstwerk mit einer Sprachgewalt, die jeden einzelnen Satz so sehr schillern lässt, dass man ihn als Motto unter seine E-Mails und als Signatur in seinen Forenaccount setze möchte. Es ist philosophisch, nachdenklich, spannend, herzzerreißend, nur eines ist es nicht: Witzig. Das ist nichts schlechtes, nicht jedes Buch, das sich mit Alice im Wunderland vergleichen lässt, muss auch witzig sein, aber wo bei Alice Wortwitz, Nonsens, das abgedreht Schräge und Überspitzte und manchmal auch Alberne den Ton angeben, ist Septembers Geschichte so zart und fragil wie das Herbstlaub, als welches das arme Mädchen an einer Stelle beinahe enden muss, und ich habe mehr als einmal die Tränen aus meinem Gesicht wischen müssen, ohne jemals vor Lachen vom Stuhl zu fallen.

Wie komme ich also dazu, ein Buch, das sich über seinen Witz definiert, mit einem zu vergleichen, das nach meinem Tränendrüsengeständnis für das eine oder andere Ohr völlig verkitscht klingen mag? Wer beide Bücher gelesen hat, wird diese Frage nicht stellen, und wer keines von beiden gelesen hat, wird die Antwort nicht verstehen, aber es ist die Art, wie in beiden Büchern die Geschichte über Begegnungen vorangetrieben wird; Begegnungen mit Personen und Geschöpfen, von denen jede und jedes einzelne einem ins Gehirn zu langen scheint und einen Gedanken anstupst – sei es eine eigene Erinnerung, eine philosophische Überlegung, ein Stirnrunzeln oder auch nur ein Kopfschütteln. Es ist die Art, wie sich beide Bücher und alle, die darin leben, ernst nehmen: Der Witz bei Alice, und auch die Momente, wo man bei September schmunzeln muss, leben davon, dass innerhalb der Geschichte selbst nicht gelacht wird, sondern jeder Satz und jede Idee vorgetragen wird mit der größten Selbstverständlichkeit von etwas, das genau so ist, wie es sein muss. Am Ende hinterfragt der Leser sich selbst, die Welt, in der er lebt, Menschen, Weisheiten und Ideale, alles, nur nicht das Buch, das er gerade gelesen hat. Darum, und nicht wegen des Nonsens, ist Alice im Wunderland eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Und genau aus diesem Grund liebe ich auch Septembers Geschichte.

Eine deutsche Übersetzung von The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making ist bislang nicht angekündigt, und ich muss gestehen, dass ich darum froh bin. Zuviel Angst hätte ich vor dem Schaden, den September in der Übersetzung nehmen würde – die zweiunddreißig Übersetzungen von Alice, die ich für meine Diplomarbeit durcharbeiten durfte, haben mich das Schaudern gelehrt, und soviel Kunst könnte verlorengehen, wenn ein Verlag einen beliebigen Übersetzer, der nicht sein ganzes Herz an dieses kleine Mädchen, an diese Geschichte und ihre kunstvolle Sprache verloren hat, beauftragen würde – am Ende käme sicher ein nettes Buch heraus, vielleicht sogar ein bezauberndes, aber es wäre doch kein Vergleich mit dem Original. Nicht die Wortspiele sind es, die hier die Arbeit erschweren – Wortspiele sind so schwer gar nicht zu übersetzen, auch wenn man das nach der Lektüre von zweiunddreißig deutschen Alicen meinen möchte – sondern die Erhaltung des Gesamtkunstwerks, die perfekte Symbiose von Sprache und Inhalt, von Bilderflut und Illustrationen, von Liebe und Herz und Seele.

Dafür freue ich mich jetzt schon auf die Fortsetzung mit dem ebenfalls auf den ersten Blick viel zu langen Titel The Girl Who Fell Beneath Fairyland and Led the Revels There, auch wenn es erst März ist und das Buch erst im Herbst erscheint – so traurig es auch ist, auf September noch bis Oktober warten zu müssen, kann ich mir die Zeit bis dahin versüßen mit der Lektüre des Buches, das schon einmal da ist, und von dem ich jetzt schon weiß, dass ich bei jedem Lesen etwas neues daraus mitnehmen kann. Und so bleibt mir die Frage, ob das Schwert meiner Mutter eine Schere wäre oder doch ein Stift, und was für eine Waffe oder Werkzeug meine eigenen Kinder, so ich sie hätte, aus dem verbotenen Wald mitbringen würden, und dass ich keine habe, macht mich für einen Moment wehmütig, denn dann kann ich ihnen nie dieses wunderschöne Buch vorlesen, das nur danach schreit, mit anderen geteilt zu werden: Mit den Eltern, so hat es meine Mutter gerade unter dem Weihnachtsbaum gefunden, mit den Kindern, mit den Freunden und Geliebten und sogar mit den Feinden, damit September sie ihre Herzen finden lässt, so wie sie ihr eigenes verlieren musste – und in der schönsten, der stillsten Stunde teilt man die Geschichte dann mit sich selbst.

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