Manchmal, wenn man selbst das mittlere Alter erreicht hat, bekommt man Lust, Bücher aus seiner Kindheit nochmal zu lesen – nicht die absoluten Lieblingsbücher, die einen das ganze Leben lang begleitet haben, sondern eher obskure Schätzchen, denen man zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt einmal begegnet ist. Und so kam mir plötzlich wieder Silberschweif und das Geheimnis der sieben Sterne in die Hände, und obwohl ich eigentlich gerade ein anderes Buch lese – seit über einer Woche arbeite ich mich durch das wuchtige Buch The Book that wouldn’t burn, und ich werde auch wohl noch eine weitere Woche brauchen, bis ich da durch bin – bekam ich plötzlich, von Sentimentalität übermannt, Lust, es noch einmal zu lesen.
Als ich knapp zehn Jahre alt war, fuhr ich nach Borkum in Kur. Sechs Wochen Seeluft in der Hoffnung, dass sich meine kaputte Haut dann bessern würde, und ein einschneidendes Erlebnis für mich. Nicht alles war so schrecklich, wie man heute meinen sollte, vor allem die Kameradschaft unter den Kurkindern war gut, und für mich, die ich in meiner Klasse zuhause stark gemobbt wurde, war es eine Wohltat, endlich einmal unter anderen zu sein, denen es so ging wie mir. Aber ich hatte nur zwei Bücher mitnehmen dürfen, und zwei Bücher für sechs Wochen, das ist echt nichts. Also tauschten wir untereinander. Meine schlaue Freundin Kerstin hatte Die Unendliche Geschichte mitgebracht, ein Buch, an dem man sich lange festhalten konnte – und als ich die durchhatte und, das muss ich heute zugeben, die Hälfte nicht verstanden, lieh ich mir von einem anderen Mädchen auf unserem Zimmer Silberschweif und das Geheimnis der sieben Sterne aus. Und ausgerechnet dieses billig produzierte Kinderbuch schaffte es, einen langfristigen Eindruck bei mir zu hinterlassen, der es mit der Unendlichen Geschichte aufnehmen konnte.
Wirklich, man kann die beiden Bücher nicht miteinander vergleichen. Das eine ist unsterbliche Weltliteratur, das andere so lang vergessen, dass ich das Buch in seiner deutschen Fassung nicht mal auf Goodreads gefunden habe – das französische Original war gelistet – und den Datensatz dafür neu anlegen musste. Selbst 1985, in dem Jahr meiner Kur, war Silberschweif und das Geheimnis der sieben Sterne schon ein obskures Stück Literatur. Erschienen 1969 als Schneider-Buch, war es schon lang vergriffen. Aber es war das Lieblingsbuch dieses Kurkinds, dessen Namen ich lang vergessen habe, und ich habe mich noch Jahrzehnte später dran erinnern können, und irgendwas muss an dieser Geschichte dann doch wohl dran gewesen sein. Ich habe es mir irgendwann im Verlauf der letzten zehn Jahre antiquarisch besorgt, um es noch einmal lesen zu können, aber jetzt, wo ich das endlich getan habe, muss ich leider sagen: Auch wenn ich verstehe, was ich mit fast zehn Jahren – mein zehnter Geburtstag fiel in die letzte Woche der Kur – an dem Buch gefunden habe, ist es doch ein arges Machtwerk und nicht entsetzlich gut gealtert.
Es stammt aus einer Zeit, als es in Deutschland den Trend gab, insbesondere beim Franz Schneider Verlag, übersetzte Bücher allesamt in Deutschland spielen zu lassen, da man offenbar davon ausging, dass sich ein deutsches Kind auch ausschließlich mit einem deutschen Kind würde identifizieren können. Auf dieses Prinzip bin ich bereits von Jahren bei Meine Tochter Liz und Die Verborgene Treppe eingegangen und verweise auf die entsprechenden Rezensionen, aber Silberschweif ist ein Sonderfall, was das angeht. Denn zur gleichen Zeit, in der das Reihe – oder zumindest einige der insgesamt vierundzwanzig Bände, die Cecile Aubry da geschrieben hat – auf Deutsch erschienen, lief im deutschen Fernsehen die Verfilmung davon. Aber wo die Serie ganz selbstverständlich in Frankreich spielte und die Hauptfigur der Junge Pascal und sein Pony Poly waren, hießen die im Buch Niko und Silberschweif.
Kann man machen. Solange man nicht versucht, diese Bücher dann als »Buch zur Serie« zu vermarkten. Aber genau diesen Spagat versucht der Franz Schneider Verlag. So finden sind im Buch Fotos aus der Verfilmung, und über dem Klappentext steht »Nach der beliebten POLY-Serie im deutschen Fernsehen« – und wo das noch nicht verwirrend genug ist, findet sich dann vorne im Buch eine Liste, in der sämtliche Figuren des deutschen Buches ihrem französischen Pendant zugeordnet werden. Das gibt Einblick in die Willkür, mit der die Übersetzerin Monika Schulz-Uellenberg vorgegangen ist. Silberschweif und das Geheimnis der sieben Sterne spielt, anders als die übrigen Teile der Reihe, auch in seiner deutschen Fassung in Frankreich, da die Französische Revolution eine Rolle spielt, und so haben viele der handelnden Figuren französische Namen – es sind nur nicht unbedingt die Namen, die sie auch im Original haben. So wird aus einem Pierre ein Christian, Grimaud zu Simon, Hervé zu Michel, alles wahrscheinlich, weil die Originalnamen für deutsche Zungen zu schwer auszusprechen wären – während der Marquis de Tancarzadec als zwar zum Grafen wird, aber seinen unaussprechlichen Namen behalten darf. Logik sucht man in dieser Liste jedenfalls vergeblich.
Die Insel, auf der das Buch spielt, scheint, zumindest deuten das die Namen an, vor der bretonischen Küste zu liegen (interessanterweise nennt fernsehserien.de als Handlungsort Korsika, und der Name von Niko/Pascal wird hier mit Tony angegeben, so dass ich mich frage, ob es verschiedene Versionen der Serie gegeben hat). Niko (ich bleibe jetzt bei den deutschen Namen, da ich das Buch auf Deutsch gelesen habe), verbringt dort zusammen mit seinem Shetlandpony Silberschweif die Ferien bei einer Tante, die als Schwester seines Vaters bezeichnet wird (während an anderer Stelle eingeschoben worden ist, Niko spräche so gut Französisch, weil er eine französische Mutter hat). Er kommt genau an dem Tag an, als der schurkische Bürgermeister Bonetti die Tante um Haus und Hof prellt und auf die Straße setzen lässt, aber natürlich gibt es einen vergrabenen Schatz, der alles wieder zum Reinen biegen wird, und das Happyend ist so vorhersehbar wie die Schurken durchsichtig.
Sieben Sterne sind an versteckten Orten auf der Insel eingeritzt, einer weist zum nächsten, und um die Schnitzeljagd zu ergänzen, gibt es noch das geheimnisvolle Medaillon von Nikos Cousine Stella, in dem sich ein weiterer entscheidender Hinweis verbirgt, und wirklich, angesichts seiner solchen Schnitzeljagd kann ich nachvollziehen, wieso sich dieses Buch so sehr bei mir festgesetzt hat. Schnitzeljagden haben bei mir den gleichen Stellenwert wie Sammelquesten, das ist bis heute meine Guilty Pleasure. Aber irgendwie hatte ich diese Schnitzeljagd verklärt, gedacht, dass sie einen deutlich größeren Anteil im Buch einnähme und verdrängt, wie viel Zeit des Buches dafür draufgeht, dass Bonettis missratener Sohn Jo den immer herzensguten Helden nachsteigt und der Bürgermeister selbst versucht, mit immer neuen Einschüchterungen erst das Medaillon und dann den Schatz an sich zu bringen. Wie dieser Mann, der zwar Geld hat, aber weder Manieren noch Charisma, jemals eine Bürgermeisterwahl gewinnen konnte, wird nie glaubwürdig erklärt.
Jedenfalls ist das Buch dann in erster Linie Räuberpistölchen. Das Rätsellösen bleibt spätestens dann auf der Strecke, als der pensionierte Kapitän Bihac den Fall übernimmt, im Alleingang alles aufklärt, was es aufzuklären gibt, die Fundorte der Sterne in eine Karte überträgt und vorhersieht, wo der nächste zu finden sein muss, und sowieso alles besser weiß – und da verfehlt dann dieses Buch für acht- bis zwölfjährige sein Ziel, denn in einem Kinderbuch sollten auch die Kinder selbst die Rätsel lösen und nicht nur mitlaufen dürfen. So aber macht es kaum einen Unterschied, ob Niko und Stella dabei sind – den Löwenanteil an der Schatzsuche haben der Kapitän und der immer hilfreiche Fischer Yann.
Gemessen daran, dass Silberschweif die zweite Hauptfigur der Serie ist und die Reihe auch als Pferdebücher vermarket worden sind, spielt das Pony eine ziemlich kleine Rolle in dem Buch. Das ist kein Wunderpferd wie Fury, und dafür, dass Poly/Silberschweif im ersten Band aus einem Zirkus befreit wird, beherrscht er auch keine besonderen Tricks – er ist ein nicht übermäßig intelligentes, nicht übermäßig gehorsames Pony, gut getroffen charakterisiert und letztlich die überzeugendte Figur des Buches, weil er der einzige ist, dem die Autorin eine ambivalente Charakterisierung erlaubt. Alle anderen sind entweder durch und durch zuckergut oder ganz und gar schurkisch, und das führt dazu, dass das Buch leider über weite Strecken doch ziemlich langweilig ist.
Von den Rollenbildern wollen wir mal ganz schweigen. Poly et le secret des sept étoiles ist im Original 1964 erschienen, und das merkt man dem Buch auch leider an. So ist Stella zwar nur zwei Jahre jünger als Niko, muss aber immerzu beschützt werden, hat ständig Angst und äußert am Schluss, dass es ihr Lebensziel ist, zu heiraten und ganz viele Kinder zu bekommen – aber sie soll auch keine Identifikationsfigur sein. Zielgruppe dieses Buches waren Jungen, wie damals für Pferdebücher nicht unüblich. Eine Pferdegeschichte für Jungen? Kommt heute nicht mehr infrage. Sodass man für die Neuverfilmung des Poly-Stoffes 2019 aus Pascal kurzerhand ein Mädchen gemacht hat, nach der inzwischen verstorbenen Autorin Cécile genannt.
Cécile/Tony/Niko/Pascal – eine Hauptfigur mit so vielen Namen ist entweder sehr wandelbar oder sehr beliebig. Hier ist es letzteres. Und auch die Spannung bleibt ziemlich auf der Strecke, vielleicht, weil niemals auch nur zur Debatte steht, dass die Helden scheitern könnten. Natürlich erwartet man bei einem Kinderbuch ein Happy End, aber trotzdem lässt sich Spannung erzeugen, lässt sich beim Leser das Gefühl wecken, dass etwas auf dem Spiel steht. Aber das Geheimnis der sieben Sterne bleibt immer blass und beliebig. Ein kurzes Buch, auf nur knapp über hundertundzwanzig Seiten auch schon zu Ende erzählt, und nur das dicke Papier lässt es einen gewissen Umfang haben, und ich war in einem guten Tag damit durch – und wende mich jetzt wieder meiner eigentlichen Lektüre zu.
Habe ich etwas von Silberschweif mitnehmen können? Ich fürchte, nein. Das war eine Lektüre ohne Nähr- oder Mehrwert. Es hat mir ermöglicht, mich nochmal an meine Kurkinderzeit zu erinnern, es hat mir Lust gemacht, mich noch einmal an die Unendliche Geschichte heranzuwagen, aber vielleicht hätte ich dieses Buch jetzt besser nicht noch einmal gelesen, sondern es bei der positiven Erinnerung belassen. Nicht alles, was man als Kind toll fand, muss man als Erwachsener nochmal mitmachen. Und das gilt auch, oder erst recht, für obskure literarische Werke, die zurecht in Vergessenheit geraten sind. Die Kindheit kommt davon nicht zurück. Und meistens ist das auch gut.