Kai Meyer ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Fantasyautoren. Ich habe ihn schon live lesen gehört und war sehr beeindruckt von seiner mitreißenden, spannenden Art, aber ich habe tatsächlich noch nie einen Roman von ihm gelesen – bis ich die Prämisse von Fürimmerhaus sah und wusste, das ist ein Buch für mich: Eine Geschichte, die komplett in einem einzigen endlosen, wuchernden Gebäudekomplex spielt. Alessandra Reß hat für das Blog des Verlags Fischer Tor einen tollen Artikel über sogenannte »Fantasy Edifices« geschrieben, Gebäude, die ein eigenes Leben haben und in ihren Romanen die eigentlichen Hauptfiguren darstellen. Und weil ich genau so etwas liebe, war ihr Artikel für mich eine einzige Checkliste, für die ich die aufgeführten Bücher nach »Habe ich schon gelesen« und »Will ich unbedingt lesen« aufgeteilt habe – und so bin ich auch auf Meyers Fürimmerhaus gestoßen.
An dieser Stelle ist ein Disclaimer angebracht: Reß‘ Artikel führt auch einen Roman von mir auf, das Kinderbuch Unten, und damit bin ich jetzt in der Situation, ein noch ziemlich aktuelles Buch zu rezensieren, mit dem ich als Autorin selbst ein bisschen konkurriere. Wobei ich nicht denke, dass ich mich hier wirklich in einer Konkurrenzsituation befinde: Zum einen spreche ich eine deutlich jüngere Zielgruppe an als Meyer, dessen Buch sich an junge Erwachsene richtet, und auch inhaltlich haben die beiden Bücher bis auf das verbindende Element »Haus« nichts miteinander gemeinsam, zum anderen ist Kai Meyer ein etablierter Autor, der dem ein Buchblog mit einem Halbdutzend Leser am Tag ziemlich egal sein kann, und zum dritten soll das hier kein Verriss werden. Vieles an Fürimmerhaus hat mir nämlich wirklich gut gefallen. Nicht alles – das kommt aber auch wirklich sehr selten vor – aber da, wo es für mich darauf ankam, bei dem wuchernden Gebäude, habe ich genau das bekommen, was ich mir erhofft hatte.
Ich liebe solche Bücher wirklich. Zugegeben, keines kann es für mich jemals mit Mervyn Peakes Gormenghast, das ich dringend noch einmal lesen muss, aufnehmen, aber ich liebe solche Fantasy Edifices, in denen ich wie in einem Walking Simulator umherlaufen und mich staunend umsehen kann. Architektur hat mich schon als Kind fasziniert, und in Büchern kann ich das ausleben, ohne dafür das Haus verlassen zu müssen. Und ein unendliches Gebäude außerhalb von Zeit und Raum, teils Heiligtum, teils Gefängnis, teils Brutstätte, ist ein Setting, von dem ich gar nicht genug bekommen kann.
Fürimmerhaus, das mich stellenweise an Incarceron erinnert hat, ist da am stärksten, wo das Gebäude selbst die Hauptrolle spielen darf. Die endlosen Hallen mit ihren Deckengemälden, die Statuen, welche die Flure säumen, erwachen zum Leben, und ich hätte noch viel mehr von diesen Ortsbeschreibungen haben können. Mal steigen wir über eine Dachlandschaft, die mich tatsächlich an die von Gormenghast erinnert, mal geht es durch säulengetragene Kellergewölbe – etwas mehr Abwechslung für die übrigen Räumlichkeiten hätte mir noch besser gefallen, aber wirklich, das Haus ist gut getroffen, wird greif- und fühlbar. Auch an den surrealistischen Elemente des Buches hatte ich Spaß: allerdings verlieren die Eulenechse und der Zeigermann ab dem Moment, wo sie nicht mehr nur ominöse Bedrohungen sind, sondern in persona auftreten, gewaltig an Wucht und wäre vielleicht doch besser der Leserphantasie überlassen geblieben.
Leider wird das Buch da schwächer, wo es um die im Fürimmerhaus agierenden Figuren geht. Denen fehlt es leider etwas an Profil, um es mit der gewaltigen Kulisse aufzunehmen. Dabei ist jeder von ihnen eigentlich ein großer Held – das Haus ist, unter anderem, eine Verwahrungsanstalt für ausgediente Weltenretter – und man hätte wirklich viel aus der Frage machen können, was aus denen wird, für deren Heldentaten kein Bedarf mehr besteht, aber gerade dadurch, dass jeder von denen beim Betreten des Fürimmerhauses seine Erinnerungen verliert und nichts als einen einzigen Satz als Biographie zum Dranfesthalten hat, und die Betreffenden niemals ernsthaft mit ihrem schicksal hadern, geht viel Potenzial verloren.
Das liegt auch an der Plotstruktur des Buches. Es beginnt mit Carter, der an genau dem Tag ins Haus kommt, als dort die Erlöser den Ausbruch wagen, und dadurch fehlt dem Leser schlichtweg der Alltag im Hauses. Das Besondere wird da fühlbar, wo es etwas gibt, von dem es sich abheben kann, und ein, anderthalb Kapitel über das übliche Leben im Haus hätten dem Buch gutgetan. So können wir den Alltag nicht selbst erleben, sondern bekommen ihn mit ein paar Sätzen in der Vorvergangenheit vorgekaut – und damit bin ich auch schon bei dem Hauptproblem, das ich mit Fürimmerhaus hatte. »Show, don’t tell« ist nicht das Mantra, dem ich mein Leben verschrieben habe – im Gegenteil, ich bin ein Fan von echt schöner Erzählkunst, und wenn ich einen Film sehen will, schalte ich den Fernseher an – aber wo das Erleben der Nacherzählung zum Opfer fällt, geht die Immersion beim Lesen verloren.
Unterm Strich hatte ich auf fast 400 Seiten keine Gelegenheit, die Hauptfiguren selbst kennezulernen. Ich bekomme gesagt, wie sie sind, bekomme das sogar immer und immer wieder gesagt, weil sie so viel Zeit damit verbringen, stehenzubleiben und sich selbst zu analysieren, statt dass sie sich durch ihr Verhalten selbst charakterisieren könnten. So hatte ich bis zum Schluss Probleme, mir alle Namen zu merken – es sind nur sechs Erlöser, die sich da auf den Weg zur Inneren Kammer machen, das hätte ich schaffen müssen, vor allem, nachdem ich gerade bei Hide mit nicht weniger als vierzehn Hauptfiguren jonglieren durfte – aber sie bleiben oberflächlich, wachsen mir nicht an Herz, und selbst wenn einer von ihnen sein Leben verliert, lässt mich das kalt.
Ein großartiges Haus allein trägt noch keinen Roman. Auch Gormenghast wäre nur eine tote Kulisse ohne die Familie Groan, ohne Steerpike, ohne den Doktor oder all die anderen verschrobenen Gestalten, die das Anwesen bevölkern, jeder von ihnen schillernd und faszinierend ausgearbeitet. Das kann ich von Carter und Co. leider nicht so sehr sagen. Dass sie Jugendliche sind, merkt man nur, weil es dransteht, ebenso könnten sie Erwachsene sein, es macht keinen Unterschied. Und wo Carter und Ambra, die beiden Perspektivträger, differenzierter ausgearbeitet sind, bleiben die anderen blass, vor allem die beiden Mädchen Emmeline und Hyazinthe, die keine größere Rolle spielen und über die wir – wiederum vor allem aus dritter Hand – erfahren, dass sie sich liebhaben und die Dinge nicht so ernst nehmen. Die eine leuchte, die andere ist eine ehemalige Marionette, aber das ist nur Optik, genauso wie das Buch endlos darauf herumreitet, dass Hengis ein anthropomorphes Kaninchen ist: Aber jenseits ihres Aussehens haben diese Figuren wenig anzubieten.
Auch die Perspektiven hätten besser gelöst werden können. Carter und Ambra stammen aus völlig verschiedenen Welten, haben ganz unterschiedliche Hintergründe, und doch sind ihre PoVs so austauschbar, dass die schon mal in einem Absatz vom einen zur anderen wechseln, ohne dass es groß auffallen würde. So haben beide noch nie bewusst eine Telefonzelle gesehen – als sie es jedoch mit einer zu tun haben, verwenden beide identische Begriffe, um sie zu beschreiben: Das wäre eine schöne Chance gewesen, die Perspektiven zu differenzieren, aber sie bleiben so austauschbar, dass man sich fragen muss, warum es dann überhaupt zwei Perspektiven gibt, außer, dass sie sich manchmal an unterschiedlichen Orten aufhalten und die Kamera gerne überall sein möchte.
Ebenfalls gestolpert bin ich über die Erzähltechnik. Wenn sich die Erlöser durchs Haus bewegen, sieht das oft so aus: Auf einer Seite wird im Plusquamperfekt zusammengefasst, wie sie sich durch die nächsten Gänge und Hallen bewegt haben, bis sie am nächsten sicheren Haltepunkt angekommen sind, wo sie jetzt sitzen und sich streiten. Und oh, sie streiten sich viel. Dabei geht es hin und her, ohne jemals auf den Punkt zu kommen, und so wirken weite Teile des Buches statisch und zerredet – dann kommt einer der Verfolger an, zum Beispiel der allgegenwärtige Zeigermann, wir bekommen eine Actionsequenz, in der sie versuchen, den Gegner abzuhängen, und das nächste Kapitel beginnt dann wieder an einem Haltepunkt und der Wie-sie-da-hingekommen-sind zusammenfassung. Da wäre einfach viel mehr Dynamik möglich gewesen, und ich muss gestehen, dass ich von einem erfahrenen Autor wie Meyer mehr erwartet hätte.
Ich bin eine routinierte Plotknackerin, und die größten Eröffnungen waren für mich vorhersehbar. Sie kommen auch ziemlich antiklimaktisch daher, gehen schnell wieder zur Tagesordnung über, und eib spektakuläres Wiedersehen endet dann so abrupt wieder, dass man sich fast fragen muss, warum die Figur dann überhaupt noch einmal aufgetreten ist, wenn man offenbar nicht viel mit ihr anzufangen weiß. Auch der Schluss hat sich für mich spätestens ab der Hälfte des Buches angekündigt und war dann genau so, wie ich ihn erwartet hatte. Eine zu vernachlässigende Liebesgeschicht, die wie drangeklatscht wirkt, hätte man von mir aus auch gleich ganz weglassen können, aber das mag daran liegen, dass mich die Figuren einfach durchgehend kaltgelassen haben.
Das klingt jetzt alles ziemlich negativ – aber Fürimmerhaus hat aber auch einiges für sich. Das geht, buchstäblich, mit dem ersten Satz los. Ehrlich, dieses Buch hat den besten ersten Satz, den ich seit fünfundzwanzig Jahren gelesen habe, und ein guter erster Satz setzt die Stimmung für das ganze Buch, was hier hervorragend gelöst ist. Auch der philosophische Hintergrund hat mir gefallen, die Ambivalenz dieses Hauses, das dafür sorgen will, dass sich Gut und Böse, Harmonie und Dissonanz, Erlöser und Widersacher im ständigen Gleichgewicht befinden. So halten sich für mich beim Lesen auch die positiven und negativen Aspekte die Waage, und auf alles, das mich nicht überzeugen konnte, kommt wieder etwas, das mir gefallen hat.
So bereue ich nicht, Fürimmerhaus gelesen zu haben. Es hat mich nicht auf ganzer Länge überzeugen können, aber ich bin für das Haus gekommen, und da bin ich nicht enttäuscht worden. Und durch dieses Buch bin ich jetzt über eine weitere Buchempfehlung reicher: Es wird nämlich immer wieder verglichen mit Piranesi von Susanna Clarke, das dann gleich auch mal auf meine Lesewunschliste gewandert ist. Alles in allem gibt es eine Leseempfehlung für Fürimmerhaus für alle, die hohle Hallen und endlose Gebäude so sehr lieben, dass sie dafür mit Abstrichen bei der Charakterisierung der Protagonisten leben können. Ich hatte jedenfalls eine angenehme Zeit mit dem Buch und habe jetzt Lust bekommen, noch mehr Bücher über Fantasy Edifices zu lesen und, wenn alles glatt geht, auch selbst zu schreiben. Denn ein Haus kommt selten allein.
Kommentare