Kiersten White: Hide

Wenn es ein Motiv gibt, auf das ich sofort anspringe, sind das verlassene Vergnügungsparks. Ich liebe sie in Computerspielen wie The Park, ich schaue immer wieder gern Fotogalerien aus dem Berliner Spreepark an und bedauere sehr, dass ich da nie an einer Führung teilgenommen habe (aber Berlin ist einfach weit weg von mir), und ich folge Youtube-Kanälen, die Urban Exploring in den Überresten lang vergangener Parks machen. Woher dieses Interesse kommt, kann ich nicht mal sagen – ich war im Leben dreimal im Phantasialand, und das war es dann auch schon an Freizeitparkbesuchen – aber ich liebe diese Mischung aus Vergnügen, Schauder und der Natur, die sich die Welt zurückerobert. Nur im Roman bin ich diesem Thema noch nicht begegnet, aber als ich in der Buchhandlung über das Buch Amazement Park gestolpert bin und gesehen habe, dass es in genau so einem verlassenen Park spielt, war mir klar, ich will das lesen.

Im englischen Original heißt das Buch einfach nur Hide, und ich muss zugeben, mit dem Titel hätte ich nicht so schnell zugegriffen wie bei dem deutschen, aber ich habe mir dann doch die englischsprachige Ausgabe bestellt, weil ich Bücher doch nach Möglichkeit in Originalsprache kaufe, und als es dann kam, habe ich, obwohl ich eigentlich schon ein anderes Buch angefangen hatte, sofort zu lesen angefangen. Und weil das Buch dann wirklich über alle Maßen spannend war, habe ich es innerhalb von drei Tagen ausgelesen. Beinahe wären es sogar nur zwei Tage geworden – Hide ist stellenweise so gruselig, dass ich es nicht aus der Hand legen wollte, aber gerade im hinteren Viertel hat es sich dann ausgegruselt, und so konnte ich gestern Abend dann doch noch andere Sachen tun, als nur zu lesen.

In dem Vergnügungspark – seit 1974 verlassen, wie uns der Prolog mitteilt, nachdem dort ein kleines Mädchen spurlos verschwunden ist – findet ein Versteckspiel mit hohem Geldpreis statt. Sieben Tage lang müssen die Kandidaten es im Park aushalten, der letzte, der gefunden wird, erhält 50.000 Dollar, und als die vierzehn Männer und Frauen in den Park gekarrt werden, ahnt man schon, dass die wenigsten von ihnen den Park lebend wieder verlassen werden. Im Zentrum der Geschichte steht Mack, Großmeisterin im Verstecken, seit sie als Kind so den Mord ihres Vaters an ihrer ganzen Familie überlebt hat und die, dieweil sie die Geschichte in einem Obdachlosenasyl beginnt, das Geld dringender brauchen kann als die mit dem Sieg verbundene Publicity. Ihr Plan: Verstecken, gewinnen, abtauchen – aber dafür muss auch sie überhaupt erst einmal überleben.

Nachdem ich in der letzten Zeit einige sehr durchwachsene, wenn nicht sogar misslungene Bücher gelesen habe, hat es mich sehr gefreut, in Hide ein Buch gefunden zu haben, das genau meinen Nerv traf. Ungefähr bis zur Mitte habe ich noch gedacht, dass es ein beinahe perfektes Buch ist – vielleicht nicht das beste Buch, das jemals geschrieben wurde, aber eines, an dem ich wirklich nicht viel zum Aussetzen gefunden habe und das genau das war, was ich lesen wollte. Zwar ist das Buch im Präsenz geschrieben, was ich weniger gern lese, und die Perspektive springt eher unschön zwischen den bis zu fünfzehn Perspektivträgern hin und her – aber ich wollte meinen Freizeitpark, und den habe ich bekommen, und ich wollte Grusel, und den habe ich auch bekommen.

Für mich ist das gruselig, was ich nicht weiß, das, wo mein Verstand verzweifelt die Lücken zu füllen sucht. Und so hat es mich sehr gefesselt, eben nicht zu wissen, was im Amazement Park umgeht, wer genau die ominösen Fänger sind, und was überhaupt Sache ist. Wenn einer der Spieler erwischt wird, endet die Szene abrupt, ohne dass wir erfahren, was derjenige da gesehen hat, und das funktioniert bei mir echt gut. Ja, die Teilnehmer kommen, sehr sicher, einer nach dem anderen ums Leben – aber statt eines Splatterromans fühlt es sich mehr an wie eine meiner heißgeliebten Talentshows, wo jede Woche einer der Bäcker, Glasbläser, Modedesigner nach Hause geschickt wird, man hält keine zerfetzten Leiber in die Kamera, sondern hat bestenfalls ein bisschen Blut, einen verlorenen Schuh, heruntergerissene Armreifen. Wer es gern plakativ mag, den wird das wahrscheinlich nicht hinterm Ofen hervorholen, aber ich finde das genau richtig gruselig, stimmungsvoll, packend.

Dann, zur Mitte des Buches, kommt eine Zäsur. Ein Buch wird gefunden, darin Briefe und Augenzeugenberichte aus den Zwanzigerjahren, und plötzlich bekommt man einen Infodump darüber, was wirklich faul ist im Ort Asterion. Und ein Infodump ist der Spannung niemals zuträglich. Fragen, die danach noch offen sind, beantwortet ein im letzten Viertel gefundenes Tagebuch, und wieder halten die dann noch überlebenden Protagonisten inne und lesen andächtig, und alles, was das Buch an Momentum mitgebracht hatte, ist auf einen Schlag verpufft. Gut für mich, die ich nach einem Cut suchte, um das Buch aus der Hand legen zu können, aber schlecht für die Spannung, die Kiersten White, routinierte Autorin bei ihrem ersten Buch für Erwachsene, hätte besser aufrechterhalten müssen, um die nägelkauenden Leser nicht mehr von der Stange zu lassen.

Als der mysteriöse Sucher dann auch noch persönlich auftreten darf und in Nahaufnahme beschrieben wird, hat es sich endgültig ausgegruselt. Was nicht mehr der Vorstellungskraft überlassen wird, hat sein Pulver verschossen, vor allem, weil es genau das war, mit dem ich nach verschiedenen Hinweisen gerechnet hatte. Spannend bleibt das Buch danach trotzdem – von dem unnötigen Tagebuch-Exkurs mal abgesehen – bis zum Ende, aber wirklich, ich hätte mich lieber noch weiter gegruselt, selbst für den Preis, dann eben etwas später ins Bett zu kommen und im ganzen Haus die Lichter einschalten zu müssen. Selbst die Perspektivträgerin meint, dass sie jetzt keine Angst mehr hat, weil sie gesehen hat, womit sie es zu tun haben, und an der Stelle hat offenbar White die bewusste Entscheidung getroffen, den Grusel über Bord zu werfen, auf grausame Splatterelemente umzuschwenken, und das Buch mit mehr Action und weniger Suspense zum Ende zu bringen.

So ist es dann letztlich doch nur ein Slasherroman. Aber vieles, das mich am Slashergenre immer gestört hat, macht White hier besser. Niemand spricht die markigen Worte »Wir müssen uns aufteilen, wenn wir überleben wollen«, sondern die Überlebenden bleiben, nachdem sie erst als Einzelkämpfer in die vermeintliche Reality-Show gekommen sind, zusammen. Nicht die Minderheiten müssen als erste sterben, sondern die ewige Praktikantin, die im Kostümchen angetreten ist in der Hoffnung, sich endlich für einen richtigen Job zu qualifizieren. Und der Jock und das Instagram-Model sind nicht das bis zum Ende überlebende Liebespaar, sondern die Kotzbrocken, die erst als ziemlich oberflächliche Charaktere ohne Tiefgang wahrgenommen werden und es dann doch in sich haben, dass selbst die schöne Ava mir am Ende ans Herz gewachsen war.

Überhaupt sind die Figuren eine der Stärken des Buches. Vierzehn verschiedene Teilnehmer so differenziert auszuarbeiten, dass man als Leser jeden einzelnen von ihnen kennenlernen kann, ist eine Kunst für sich, und das Versteckspielen dann so zu choreographieren, dass zwar der Einzelne einen quälend langen Tag im Versteck ausharren muss, für den Leser aber Spannung und Varianz geboten wird, ist hier so gut umgesetzt, dass ich selbst das bereits erwähnte Perspektivspringen dafür in Kauf nehme. Natürlich – nicht alle Vierzehn sind gleichermaßen tief ausgearbeitet. Mack, die Verschlossene, von Schuldgefühlen geplagte Überlebende, ist sicherlich eine interessantere Figur als Rebecca, die Schauspielerin mit der zu geringen Oberweite und Lebensmittelallergie, aber selbst kleine, schnell aus der Handlung wieder entfernte Figuren bleiben im Gedächtnis.

Selbst die Tatsache, dass die Kandidaten auf den ersten Blick ein bisschen wenig divers aufgestellt sind – so sind nur zwei von ihnen schwarz – spielt eine Rolle und ist ein früher Hinweis auf die Tatsache, dass die Teilnehmenden mitnichten zufällig ausgewählt worden sind. Vielleicht gibt es insgesamt zu viele Hinweise im Verlauf des Buches, manches wird doch sehr, sehr oft erwähnt, sei es der Name des Parks oder das Herumreiten auf dessen labyrinthartiger Struktur, aber das habe ich dem Buch verzeihen können, weil es eben so erstaunlich viel richtig gemacht hat in meinen Augen.

Gefreut habe ich mich über die sich sehr zart und zerbrechlich anbahnende Romanze zwischen Mack und der anderen Ava, der Veteranin mit dem kaputten Bein. Gerade weil in Slasherfilmen die queeren Figuren oft als erste sterben, fand ich es schön, dass sie die Figuren sind, von denen man sich wünscht, dass sie bis zum Ende durchhalten. Zu den postiveren Figuren gehören noch der aus seiner fundamentalistischen Sekte verbannte LeGrand und Brandon, der so unerträglich positiv ist, dass ich lang geglaubt habe, er müsste ein finsteres Geheimnis mit sich herumtragen – aber das Buch spielt da einfach sehr geschickt mit meinen Erwartungen.

Vor allem sind es die zornigen Details, mit denen das Buch punkten kann, beiläufige Seitenhiebe auf die amerikanische Gesellschaft, in sich der junge Leute in drei Jobs kaputtarbeiten oder von Praktikum zu Praktikum hangeln, um irgendwann zumindest den Studienkredit zurückzahlen zu können. Alle vierzehn Kandidaten, selbst die scheinbar erfolgreichen Social-Media-Helden, sind auf ihre Art Verlierer, gehören zu einer verlorenen Generation, und das spitzt sich im Finale, bei der es nur vordergründig um Mensch gegen Monster, sondern mehr um Gen Z gegen Baby Boomer geht, nicht mit dem Holzhammer, aber effektiv. Im Gedächtnis bleibt dann auch die Szene, in der die schöne Ava um ihr Leben rennt und sich sicher ist, dass diese Szene aus der vermeintlichen Show rausgeschnitten wird, weil Ava ihre Tage bekommen hat und Menstruation in Amerika doch immer noch ein absolutes Tabu-Thema ist.

Zornig ist auch das lesenswerte Nachwort der Autorin, in dem sie pointiert berichtet, wie die Schule ihres ältesten Kindes Buntglasfenster installiert worden sind, damit Amokschützen nicht von außen in die Klassenzimmer schauen und sich die Kinder im Ernstfall besser verstecken können – Kunst statt schärferer Waffengesetze, und ich kann mir vorstellen, wie aus diesem Funken, Kinder, die sich um ihr Leben verstecken müssen, der Grundgedanke für Hide entstanden ist. Überhaupt hat Kiersten White mit diesem Buch Eindruck bei mir hinterlassen, und ich habe Lust, mehr von ihr zu lesen, angefangen mit der Sinister Summer Series, einer Kinderbuchreihe, bei der jeder Band in einer anderen gruseligen Touristenattraktion spielt. Denn von gruseligen Touristenattraktionen kann ich gar nicht genug bekommen, und Kiersten White offenbar auch nicht.

So gibt es hier von mir eine klare Empfehlung, selbst wenn der Grusel mittendrin abhandenkommt und der doppelte Infodump wirklich sehr unglücklich gelöst ist. Bemerkenswerte Figuren, sprachlich auf den Punkt, mit einer fesselnden Handlung – ich denke, Hide ist ein Buch, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird und das ich, hätte der Tag mehr Stunden, dann auch gern in einem Rutsch verschlungen hätte. Ein Buch, das ich mir wirklich gut verfilmt vorstellen kann, das aber als Buch immer nochmal besser funktioniert.

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