Ich bin nicht der sozialste aller Menschen, und das war ich schon als Kind. Allein, in einer Ecke, mit einem Buch konnte ich den ganzen Tag verbringen – in den Ferien auch gerne mal den ganzen Tag, wenn man mich ließ. Viele Freunde hatte ich nicht. Trotzdem – oder gerade deswegen – bin ich nicht weniger als dreimal in den Ferien in einer Art Sommercamp gewesen. Ich hatte die Hoffnung, dass ich da, wo alle als Fremde ankamen, Freunde finden würde. Und tatsächlich war ich in diesen Lagern kein Außenseiter, hatte Spaß und Spielgefährten, es hat nur nie über die Grenzen des Camps hinaus gehalten. Zweimal war ich im Zeltlager mit dem Jugendrotkreuz, einmal mit der Arbeiterwohlfahrt in einem niederländischen Holzhüttendorf, und das war es wohl, was am nächsten an die typisch amerikanischen Summercamps heranreicht.
Trotzdem war meine Assoziation, als ich las, dass der dritte Band von Kiersten Whites Sinister Summer-Reihe in einem Summercamp spielt, nicht der Aufenthalt in Heino, aus dem ich als Zehnjährige mit Kopfläusen nach Hause gekommen bin, sondern ein Lied: Little Boxes, 1962 von der Liedermacherin Malvina Reynolds geschrieben, eine satirische Betrachtung des amerikanischen Mittelstands, in es heißt »And the children go to summer camp, and then to the university, where they are put in boxes and they come out all the same«. Und mit diesem Ohrwurm im Hinterkopf begann ich die Lektüre von Camp Creepy, nicht ahnend, dass ich damit DEN Soundtrack für dieses Buch schlechthin gefunden hatte.
Nach einem Goth-Spaßbad und vampirischen Wellnesshotel begegnet den Sinister-Winterbottom-Zwillingen Theo und Alexander und ihrer großen Schwester Wil in ihrem dritten Abenteuer das Fürchterlichste überhaupt: die Normalität. Das Camp Creek genannten Sommerlager verspricht »den Sommer, den jedes Kind erleben sollte«, was die Sinister-Winterbottoms stirnrunzelnd feststellen lässt, dass man das so pauschal nicht sagen kann, schließlich ist jedes Kind anders … aber nicht so im Camp Creek. In diesem pittoresken Holzhütten-Musterdorf wird eine so aggressive Normalität gelebt, dass es keine Abweichler gibt, keine Außenseiter, alle sind eine große, glückliche, normale Familie, in der alle Spaß! haben, mit Ausrufezeichen, und alle verschwimmen in ihren fröhlichen bunten Batik-T-Shirts zu eine einheitlichen Masse, in der man keine Individuen mehr ausmachen kann, noch nicht einmal in Nahaufnahme.
Eigentlich waren die Geschwister und ihr Freund Edgar nicht gekommen, um zu bleiben, sie wollten nur Nachforschungen anstellen, die sie auf die Spur ihrer verschwundenen Eltern führen soll und auf die ihrer (ehemaligen) Freundin Quincy, die ihnen im Sanguine Spa so übel in den Rücken gefallen war, dass Theo nicht nur auf Antworten, sondern auch Rache sinnt – aber dann werden sie gleich eingebucht(et), Theo und Alexander als Camper, Wil und Edgar als Betreuer. Und die Reaktion der Zwillinge könnte, wie die beiden selbst, unterschiedlicher nicht sein. Theo ist begeistert von den Aktivitäten, die das Camp bietet, mit Bogenschießen, Seilbahn und Schwimmen im See – für den übervorsichtigen Alexander bedeutet es den größten Horror. Und dann auch noch Essen vom Buffet, wo keine strengen Hygienevorschriften gelten!
Aber etwas stimmt in diesem Camp nicht, und mit diesen Campern. Und das macht auch vor den Sinister-Winterbottoms keinen Halt: während Will, ohne ihr konfisziertes Smartphone auch nur zu vermissen, bald klatschend und in Ausrufezeichen sprechend im Batikhemd herumhüpft, schwingt sich Alexander nach seiner ersten Batiksitzung ganz vergnügt mit der Seilbahn in den See, stellt keine Fragen mehr nach den Sicherheitsvorkehrungen und lässt sich mit Alex anreden, weil das doch viel normaler ist und überhaupt für alle Beteiligten viel bequemer, und plötzlich ist nur noch Theo übrig, muss Alexander an der Vorsichts- wie Misstrauensfront vertreten und dabei so tun, als ob sie den Sommer ihres Lebens erlebt, während sie verzweifelt einen Weg sucht, ihren Bruder wieder zu sich selbst zu machen.
Schon die ersten beiden Sinister Summer-Bände hatten mir wirklich gut gefallen, aber der dritte Teil war für mich der bislang beste. Es war auch das erste von den drei Büchern, das ich nicht in einem Rutsch durchgelesen habe: So nervenaufreibend war die Lektüre, so sehr ging mir die Thematik unter die Haut, dass ich Pausen machen musste und erst am nächsten Tag weiterlesen konnte. Und auch wenn in diesem Buch nichts passiert, das für ein Kind ab zirka zehn Jahren zu erschreckend oder unverständlich wäre, ist es ein doch irgendwie ziemlich erwachsenes Buch geworden, und Sachen wie Hirnwäsche und Suggestion findet man in Bücher für diese junge Altersgruppe doch eher selten.
Dabei ist die Thematik selbst eine, die mich als Zehnjährige noch deutlich mehr betroffen hat als heute: Passe ich mich an, werde ich normal, um Freunde zu haben und dazuzugehören – oder bleibe ich so, wie ich bin, lasse mich nicht verbiegen um den Preis, immer ein Außenseiter zu bleiben? Mit zehn Jahren war das für mich klar: Ich bleibe ich. In unmodischen Kleidern ließ ich mir die Haare von meiner Mutter im Prinz-Eisenherz-Stil schneiden, bevorzugte klassische Musik gegenüber dem, was angesagt war, und las lieber Bücher, als mich einer Mannschaftssportart anzuschließen, und muss wohl eine Checkliste geführt haben, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich in allem anderes war als die anderen.
Ich war einsam dabei. Ich hätte gerne Freunde gehabt, jemanden, der so war wie ich, und weil ich niemanden fand, litt ich sehr. Dass ich dabei blöd war, dass ich nicht merkte, dass eine Mitschülerin immer wieder versucht hat, sich mit mir anfreunden, soll heute nicht das Thema sein: Aber ich war anders mit Ansage, ich fühlte mich allzu oft wie ein Puzzleteil, das jemand an der falschen Stelle anlegen wollte, und reagierte zunehmend unwillig auf die Aufforderung, mich gefälligst anzupassen: Warum versuchte niemand, so zu werden wie ich, wenn denen an mir etwas lag? Warum sollte ich so werden wie sie?
Jetzt, bei der Lektüre von Camp Creepy, ist das alles wieder hochgekommen. Wie meine Klasse zusammengelegt hat, um mir einen Friseurbesuch zu ermöglichen, und ich tödlich beleidigt abgelehnt habe. Wie ich, gegen Ende meiner Schulzeit, mich von meinen Lehrern tadeln lassen musste, weil ich mich bei einem Biergartenbesuch auf der Kursfahrt nach München nicht mit den anderen abscheulich betrunken hatte, sondern am Rand gesessen und gelesen hatte – die Wahrnehmung der Allgemeinheit war, dass ich mich selbst ausschloss, nicht, dass ich ausgeschlossen wurde. Und so konnte ich jetzt so sehr mitfühlen mit Alexander, der am ersten Abend im Camp, noch ohne Batikhemd, in seinem Stockbett liegt und sich wünscht, einmal im Leben dazuzugehören.
Aber als er das, eine sehr offensichtliche Gehirnwäsche später, das dann tut, ist schnell – und hoffentlich auch für alle »normalen« Leser:innen – klar, dass es falsch ist. Alexander mag jetzt zwar dazugehören, aber er ist nicht mehr Alexander. Das wird vielleicht ein bisschen zu wortwörtlich erklärt, doch muss man an der Stelle berücksichtigen, an welche Altersgruppe sich das Buch richtet und wie wichtig der Autorin wohl diese Botschaft war, gegen erzwungene Normalität, für die Individuen. War die Message des ersten Buches noch »Rosinen sind bäh!«, hat sie in Camp Creepy wirklich etwas zu sagen, und man kann dem Buch vorwerfen, dass es da zu kämpferisch daherkommt, aber es ist immer noch ein spannender, gut lesbarer Abenteuerroman – ein Plädoyer, keine Kampfschrift.
Auch über die Thematik »Außenseiter vs. Normalität« hinaus hat mir Camp Creepy gut gefallen. Mittlere Bände einer Reihe haben es tendenziell am schwersten: Sie haben einen offenen Anfang, ein offenes Ende, und selbst wenn sie, wie hier, einen in sich abgeschlossenen Handlungsbogen haben, müssen sie doch den Reihenplot vorantreiben. Das ist hier, im dritten von fünf Bänden, gut gelungen: Noch mehr als im zweiten Teil werden die Hintergründe um das Verschwinden der Eltern nach und nach aufgeblättert, und wo die Kinder im ersten und zweiten Band an den jeweiligen Handlungsorten mehr oder weniger gegen ihren Willen abgeliefert worden waren, ergreifen sie am dem dritten Teil die Initiative, entscheiden selbst, wo sie hingehen, und lassen sich nicht mehr von den Erwachsenen herumschieben. Der dritte von fünf Teilen sollte den Wende-, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellen, und Camp Creepy tut genau das.
Durch Alexanders Gehirnwäsche wird die Einheit der Zwillinge aufgebrochen, was der Dynamik und der Entwicklung der Charaktere gut tut. Theo, die Probleme hat, ihre eigenen Gefühle einzuordnen, darf ihre empathische Seite zeigen, wenn sie versucht, nachzuvollziehen, ob die Veränderungen ihres Bruders jetzt zum Guten oder Schlechten sind – immerhin scheint er ja großen Spaß zu haben, wird endlich nicht mehr von seinen Ängsten dominiert und hat ganz viele Freunde, ist das nicht das, was sie ihm immer gewünscht hat? Aber es gelingt ihr besser, als sie selbst erwartet hätte, sich in ihn hineinzuversetzen und auch in die ebenfalls gehirngewaschene vermeintliche Gegnerin Quincy, und sie lernt Dinge über sich selbst, die sie noch nicht einmal geahnt hat.
Ein paar Kritikpunkte an dem Buch habe ich dann doch. Die Reihe betritt Enid-Blyton-Territorium, wenn es wirklich immer und überall ein System von Geheimgängen zu erkunden gibt: Im dritten Band nutzt sich das Motiv doch langsam ab, und ich kann nur hoffen, dass der vierte Band vielleicht ohne auskommt und sich das nicht zum Running-Gag entwickelt. Ich fand auch das Ende ein bisschen überhastet und atemlos, da hätte ich mir einen etwas glatteren Abschluss gewünscht. Und die große Schwester Wil ist ein Genie, das im Vergleich zu den Geschwistern Ecken und Kanten vermisst und einfach zu viel weiß, zu viel versteht, und zu viel richtig macht. Dass die Zwillinge versuchen, Wil zu retten, nur damit sich herausstellt, dass das gar nicht nötig und sie ihnen immer einen Schritt voraus war, wiederholt sich jetzt doch ein bisschen.
Um so gespannter bin ich auf den vierten Band der Reihe. Aber was den angeht, und dann die Lektüre des Abschlussbandes, muss ich mich bis auf Weiteres gedulden. Das bereits bestellte Menacing Manor soll irgendwann zwischen Juli und September geliefert werden, und ich habe gerade nicht die Kraft, mich mit dem Kundendienst herumzuschlagen, die Bestellung zu stornieren und bei der Konkurrenz, die mir das Buch in zwei Wochen verspricht, neu zu bestellen. Ich bin gerne anders, und heute, anders als 1985, in meiner Nische angekommen, ich habe Freunde, die zu mir passen, und mein Anderssein zum Beruf gemacht: Aber wo es um Alltagstauglichkeit geht, wäre ich dann doch gerne ein bisschen normaler. Man muss es mit den kleinen Schachteln ja nicht gleich übertreiben.
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