Bedingt durch meine Rolle als Autor und Admin des dienstältesten deutschen Fantasyautor:innenforums, kenne ich eine ganze Reihe Autoren persönlich, und wenn ich nicht gerade starstruck vor Terry Pratchett stehe, habe ich da auch wenig Berührungsängste – ich bin unter Kollegen, und im Zweifelsfall lästert man gemeinsam über den Buchmarkt. Allerdings habe ich noch nicht so viel mit internationalen Erfolgsautoren zu tun gehabt. Neben der Begegnung mit Terry Pratchett war da sonst nur mein Treffen mit Seanan McGuire.
Ich hatte das große Vergnügen, Seanan persönlich zu treffen, als sie im Herbst 2014 als Special Guest auf der FilkContinental, einer deutschen Filk- Convention, war. Da ging es zwar primär um Musik – Filk-Musik eben – aber Seanan bot auch eine Fragestunde zum Thema Schreiben und Veröffentlichen an, und ich saß mit ihr auf dem Podium, um die Situation von Autoren in Deutschland zu beleuchten. Es war eine tolle Runde, sehr informativ, sehr lustig, und ich konnte gänzlich unvoreingenommen an das Treffen herangehen, weil ich noch nie etwas von Seanan McGuire gelesen hatte: Ich wusste natürlich, dass sie Autorin ist, aber nicht, dass sie eine New York Times-Bestsellerautorin ist, nicht, dass sie 2013 fünf Hugo-Nominierungen auf einmal abgegrabbelt hatte, und nicht, dass sie eine derartig bekannte Hausnummer ist.
Ich sah nur eine echt coole Autorin, die auch noch tolle Musik macht, und nahm mir vor, dringend einmal etwas von ihr zu lesen. Aber diese Convention fiel in die Zeit, in der ich kaum gelesen habe, und obwohl ich bald mehrere Bücher von ihr besaß, hat es bis jetzt gedauert, bis ich etwas von ihr gelesen habe: Nicht den Auftakt ihrer Fantasykrimi-Reihe October Daye, sondern den Auftakt ihrer Wayward Children-Reihe, Every Heart a Doorway. Und beim Lesen konnte ich nicht umhin, mich an diese bald zehn Jahre zurückliegende Convention zu erinnern und an einen von Seanans Songs, der wirklich tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hatte.
In diesem Lied, Wicked Girls Saving Ourselves, geht es um die Mädchen, wie Dorothy, Wendy und Alice, die in fremde Welten gereist sind und wieder nach Hause zurückgekehrt sind, als wären sie nie weggewesen, und bis heute kann ich das Lied nicht hören, ohne zu heulen. Es bedeutet mir wirklich sehr viel, und es hat mir die Eingabe gegeben, mein Kinderbuch Unten nicht einfach damit enden zu lassen, dass die Heldin ihre Freundin rettet und wieder nach Hause kommt, und so kann ich sagen, ich verdanke diesem Lied wirklich viel. Für Seanan McGuire, ihrerseits, hat dieses Lied – oder die Beschäftigung mit der Thematik im Allgemeinen – den Grundstein für die Wayward Children-Bücher gelegt, deren erster Band 2016 erschienen ist und der neunte gerade im Januar.
Every Heart a Doorway hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter die Hugo, Locus und Nebular Awards als beste Novelle, und jetzt ist es also bei mir angekommen. Für eine Novelle ist das Buch schon regelrecht lang, es hat immerhin rund 170 Seiten, aber ich hatte es gekauft in Erwartung, einen richtigen Roman zu bekommen, und muss sagen, dass die Bücher, gemessen an ihrer Länge, mit siebzehn, achtzehn Euro pro Band doch ziemlich teuer sind. Weswegen ich jetzt, auch wenn mir das erste Buch wirklich gut gefallen hat, darauf verzichtet habe, mir gleich die nächsten acht Bände zu kaufen. Dazu kommen noch diverse Kurzgeschichten, der zehnte Band ist auch schon angekündigt, die Filmrechte wurden an Paramount verkauft … Alles in allem also ein ganz schön großes Franchise. Und ich bin da gerade mehr drüber gestolpert, weil das Buch, durch das ich mich eigentlich arbeitete, mir gerade zu dick erschien und ich etwas Kurzes für Zwischendurch lesen wollte.
Die Wayward Children-Bücher – wobei »wayward« sich zwar mit »missraten« übersetzen lässt, aber zugleich den Beiklang hat von »vom Wege abgekommen«, was es hier noch besser trifft – spielen an einem Internat für abgelegte Kinder: Kinder, die nach ihrer Rückkehr aus einer fremden Welt in der »richtigen« Welt keinen Fuß mehr fassen können und sich nichts mehr wünschen, als dorthin zurückkehren zu können. So ist Miss Wests Schule für sie kein Paradies, sondern nur das kleinere Übel im Vergleich zu einer Umgebung, in der man ihnen ihre Abenteuer abspricht und sich nichts mehr wünscht, als dass sie wieder normal werden. Normalität verlangt hier niemand von ihnen, und sie sind unter Gleichgesinnten – was nicht heißt, dass sie untereinander alle die besten Freunde sind. Zu unterschiedlich sind sie, zu unterschiedlich die Welten, die sie bereist haben, aber gerade diese Vielseitigkeit bringt das Potenzial mit, eine ganze Reihe zu tragen, ohne sich zu sehr zu wiederholen.
Im ersten Buch begegnet uns also Nancy, die gerade aus dem Totenreich zurückgekehrt hat und dort gern den Rest ihres, nun ja, Lebens verbringen würde, und deren Eltern ihr, »damit ihre Therapie auch ein Erfolg wird«, nur bunte Kleider eingepackt haben in Hoffnung, nach Nancys Aufenthalt an der Schule die Tochter zurückzubekommen, die sie, wenn man Nancy fragt, niemals hatten. Im Totenreich fühlte Nancy sich verstanden – und so ist es auch den anderen Mädchen (und der Handvoll Jungen) an Miss Wests Schule ergangen: Eine Welt, in der sie sie selbst sein können. Nun haben diese Welten sie also ausgespien – vielleicht nur übergangsweise, vielleicht für immer – und die Erkenntnis, dass sie nicht wissen, wie sie zurückkommen sollen (»nach Hause«, wie Nancy es nennt) ist bitter.
Nancy ist auch an dieser Schule bestimmt, eine Außenseiterin zu sein zwischen den flatterhaften Geschöpfen, die im Feenreich über Regenbögen gelaufen sind oder in Nonsense-Ländern ihre wilde Seite ausleben konnten, aber sie findet Anschluss – zumindest so lange, bis jemand anfängt, Schülerinnen zu ermorden und verstümmeln und Nancy, die Neue, die mit der Faszination für den Tod, sich verdächtig macht. Spätestens, wenn es darum geht, eine Leiche verschwinden zu lassen, damit die Schule nicht aufgelöst werden muss und die übrigen Kinder nicht gezwungen werden, in ihre verständnislosen Familien zurückzukehren …
Vieles an Every Heart a Doorway hat mir wirklich gut gefallen. Das geht schon mit dem Setting los, das mich sehr an das Rollenspiel Changeling – The Lost erinnert hat, in dem man Menschen spielt, die von den Feen verschleppt worden und in die Wirklichkeit zurückgekehrt sind, und geht weiter mit der Ausarbeitung der Figuren. Sie sind nicht alle sympathisch: Es gibt keine Voraussetzung, ein netter oder auch nur verständnisvoller Mensch zu sein, um eine fremde Welt zu bereisen, und wirklich, einen Großteil der Schüler:innen konnte ich nicht ausstehen, spätestens, wenn sie ihrem wirklich netten Mitschüler Kade mit unverhohlener Transphobie begegnen. Die Stelle hat mich, selbst transgender, so übel getriggert, dass ich mir zum ersten Mal eine Content Note mit dahingehender Warnung gewünscht hätte.
Aber es ist nicht die Autorin, die hier transphob ist, im Gegenteil – sie bildet nur Wirklichkeit ab, in der trans Männer und Frauen immer noch Tag für Tag leben, und es war diese Wirklichkeit, die mich zornig gemacht hat, nicht das Buch selbst. Kade selbst ist eine der tragischsten Figuren des Buches, aus seiner Welt verbannt, weil die Feen nur Mädchen davonstehlen und ihn, nachdem sie verstanden hatten, dass er in Wirklichkeit ein Junge ist, zurückgeschickt haben – nur, damit er ein zweites Mal die Pubertät als Mädchen durchmachen muss und in einer Familie landet, die nicht bereit sind, ihn als Jungen zu akzeptieren. Mit Kade und der asexuellen Nancy hat das Buch zwei sehr starke LGBTQIA-Figuren, die mich doch darüber hinweggetröstet haben, dass ich so viele von den anderen Charakteren nicht leiden mochte.
Der Krimiplot, der sich durch die zweite Hälfte des Buches zieht, hat mich nicht ganz so sehr überzeugen können. Das liegt in erster Linie an der Länge des Buches: Wenn man nur rund hundert Seiten zur Verfügung hat, den Mord aufzuklären, hat man von Haus aus wenig Zeit für intelligente Ermittlungen mit spannenden Wendungen, und hier geht zu viel Platz dafür drauf, weitere Leichen erst auftreten und dann verschwinden zu lassen, bis am Ende der/die Täter:in auf frischer Tat ertappt werden kann. Natürlich behauptet Every Heart a Doorway nicht, ein Krimi zu sein, aber nach dem Klappentext hatte ich mir schon ein bisschen mehr Suspense erhofft.
Dazu kommt ein ärgerlicher Stolperer: Da kommt eine Figur, die nicht wissen kann, dass der Toten die Hände abgehackt worden sind, weil man ein Laken über das Opfer gebreitet hat, und kommentiert dann genau diesen Umstand – und muss mich fragen: Ist das der Hinweis, mit dem der Mörder sich verrät, wie in den Ratekrimis, die früher immer auf der letzten Seite unserer Fernsehzeitung standen? Oder hat da jemand im Lektorat nicht aufgepasst? Das eine wie das andere ist ärgerlich, und ohne jetzt zu verraten, was von beidem es war, es hat mich gestört, weil es die Auflösung am Ende unbefriedigend gemacht hat.
Aber das ist jetzt ein Jammern auf hohem Niveau. Every Heart a Doorway ist ein wirklich gutes Buch. Wem es wichtiger ist, einen intelligent gemachten Fantasykrimi zu lesen, orientiere sich vielleicht besser in Richtung der October Daye-Bücher, aber wer sich immer gefragt hat, wie es weitergeht, wenn die Portalfantasy am Ende angekommen ist, der ist hier genau richtig. S’ist nirgends besser als daheim, wie Dorothy am Ende von The Wonderful Wizard of Oz meint? Nicht, wenn man Eleanor Wests jugendliche Schützlinge fragt. Nur auf das regelrecht verkitschte Ende hätte ich vielleicht verzichten können – aber es passt zu dem, was Seanan bereits in Wicked Girls Saving Ourselves geschrieben hat: »We won’t take our place on the shelves«, wir gehen nicht zurück in unsere Bücherregale. Und so betrachtet, war es dann das beste Ende, das dieses Buch haben konnte.
Und auch wenn noch zahlreiche Bücher folgen sollten, lässt sich zumindest der erste Band der Reihe wie eine eigenständige, in sich geschlossene Geschichte lesen. Wenn auch wie eine, die Lust macht auf mehr.