Es gibt verschiedene Arten, neue Autor:innen zu entdecken. Manchmal stößt man auf ein Buch, ist begeistert, schaut, was diese Person sonst noch so geschrieben hat, und kauft den Buchhandel leer. So ist mir das dieses Jahr mit Kiersten White gegangen, nachdem ich Hide gelesen hatte. Ich habe jetzt vier Bücher von ihr gelesen, weitere auf meiner Wunschliste stehen, und bis jetzt hat sie mich nicht enttäuscht. Mit anderen Autor:innen ist das anders. Da lese ich ein Buch, und es kann mich nicht völlig überzeugen, lässt mich enttäuscht oder gleichgültig zurück. Das heißt, ich stürme nicht gleich in die Buchhandlung, um mir das Gesamtwerk anzuschaffen – es muss aber auch nicht heißen, dass ich fortan Bögen um diesen Namen mache.
Jeder kann mal ein Buch schreiben, das nicht ganz so toll ist wie die anderen, und ich will niemanden pauschal verdammen, nur weil er oder sie mich nicht zu hundert Prozent abholen konnte. Es sieht anders aus, wenn ich ein Buch wirklich schlecht geschrieben finde, wenn es mich ärgert mit sexistischen Tendenzen, Homophobie oder Stigmatisierung psychischer Erkrankungen – bei so etwas ist mir dann klar, wir passen nicht zusammen. Aber wenn es einfach nur um mangelnde Begeisterung geht – da gebe ich doch gerne eine zweite Chance. So ist mir das jetzt mit V[ictoria] E[lizabeth] Schwab gegangen. Ihr Jugendbuch City of Ghosts hat mich ziemlich kalt gelassen und mich nicht gegruselt – aber um Gallant, das sie vier Jahre später veröffentlicht hat, bin ich einfach nicht herumgekommen. Und ihr diese zweite Chance zu geben, habe ich wirklich nicht bereut. Das Buch hat mir sehr gut gefallen, und ich nehme ihm höchsten übel, dass es mir ein kleines bisschen das Herz gebrochen hat.
Auf dieses Buch gestoßen bin ich wieder mal über Alessandra Reß‘ Artikel zum Thema »Magische Gebäude in der Fantasy«, mit dem sie wirklich einen Nerv von mir getroffen hat. Ich liebe es, wenn in einem Buch ein Haus die eigentliche Hauptrolle spielt. Und die Veröffentlichung der deutschen Fassung von Gallant im Verlag Fischer TOR, hier mit dem Zusatz Im Garten der Schatten versehen, war überhaupt erst der Aufhänger für diesen Artikel, den Reß für das TOR-Blog verfasst hat. Ein gruseliges Herrenhaus, ein Waisenmädchen auf der Suche nach ihrer Familie – das klang wie das richtige Buch für mich, vereint all meine Lieblingstropes in einem, und so ignorierte ich, dass mir City of Ghosts nicht so gut gefallen hatte – immerhin war es ja gut und spannend geschrieben, kaufte mir Gallant, und atmete es ein.
Vom Setting her – das Buch scheint, auch wenn die historische Einordnung nie konkretisiert wird, im England irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg zu spielen – könnte man es für einen historischen Gaslichtroman halten, aber dafür ist der Stil zu modern: Das Buch ist im Präsenz geschrieben, und damit habe ich immer so meine Probleme, muss mich ein bisschen reinfuchsen, bis ich wirklich drin bin. Ich bevorzuge Bücher, die in der Vergangenheit geschrieben sind, einfach als persönliche Geschmackssache, aber viele moderne Bücher verwenden die Gegenwartsform, und ich will sie nicht pauschal abwerten für etwas, bei dem es kein objektives Richtig oder Falsch gibt. Ich bin trotzdem ganz gut in Gallant reingekommen, das nach einem etwas zähen Anfang im Waisenhaus schnell an Fahrt aufnimmt, und spätestens, nachdem wir im namensgebenden Herrenhaus angekommen waren, konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen.
Olivia Prior hat keine Stimme. Sie spricht nicht, sie schreit nicht, so gern sie das auch würde, aber sie will ein selbstbestimmtes Leben führen. Eines, in dem sie nicht mit einer Schiefertafel um den Hals herumlaufen muss, um sich ihrer Umwelt mitzuteilen, sondern in dem ihre Umwelt und sie sich auf Augenhöhe begegnen und Gebärdensprache verwenden. Wobei Olivia nicht gehörlos ist, ihr fehlt nur die Stimme, und über weite Teile der Lektüre fürchtete ich, sie könnte »geheilt« werden, auf wundersame Weise ihre Behinderung abschütteln und am Ende leben wie alle anderen, normalen Leute. Solche Wendungen, nach denen Behinderungen eine Herausforderung sind, die es zu überwinden gilt, hasse ich, und sie sind zum Glück selten geworden in der Literatur der letzten Jahrzehnte: Heutzutage werden Bücher nicht mehr dominiert von Klara und Colin, die sich aus ihren Rollstühlen erheben und gesunden, sondern von Menschen mit Behinderung, die am Ende immer noch ihre Behinderung haben, sich aber nicht mehr von ihrer Umwelt behindern lassen.
Und auch Schwab hat, wie man ihrer Danksagung entnimmt, aktiv nonverbale Kommunikation erforscht und vermeidet die einschlägigen Fallstricke, ihre Heldin das Sprechen lernen zu lassen. Olivia versteht im Verlauf der Handlung, warum ihr die Stimme fehlt, während sie langsam das Schicksal ihrer Eltern aufdeckt – und verständigt sich über ihre Hände. Die britische Gebärdensprache ist um 1900 entstanden, zum Zeitpunkt, da das Buch wohl spielt (es gibt Autos, aber Elektrizität ist noch überall vorhanden) also noch nicht so weit verbreitet, aber ich habe es der Autorin nicht übelgenommen, dass Olivia in Gallant auf Faktotum Edgar trifft, der rein zufällig Gebärdensprache beherrscht, auch wenn nie erklärt ist, warum er das kann. Wirklich, besser so, als wenn Olivia als wandelnde Schiefertafel herumlaufen müsste, und ihre Würde bleibt ihr so immer erhalten.
Zur größten Not, gegenüber Leuten, die nicht gebärden können, greift Olivia auch mal zum Schreibstift – aber noch besser ist sie darin, Fragen und Beobachtungen aufzumalen, eine wichtige Sache, denn ihr Cousin Matthew, einer der drei Menschen, die noch in Gallant ausharren, kann nicht lesen. Er begegnet Olivia erst so schroff und abweisend, dass ich schon das Schlimmste befürchte: Bahnt sich da eine zarte Romanze an zwischen der armen Waisen und dem Sohn des Bruders ihrer Mutter? Aber auch hier bange ich vergebens: Für Olivia, die möglicherweise asexuell ist (oder einfach nur mit dem Jungen, mit dem sie zu Waisenhauszeiten ihren ersten und einzigen Kuss ausgetauscht hat, nicht viel anfangen konnte), gibt es in diesem Buch keine Romanzen, erst recht nicht mit ihrem letzten Verwandten, und ich war froh darüber. Vermisst habe ich die Liebesgeschichte nicht, aber man bekommt das als Autor immer derart eingebläut, gefälligst eine Romanze einzubauen, dass es mich erfrischt, dass Schwab, immerhin Bestsellerautorin, auch ohne kann. Auch in City of Ghosts gab es keine, aber Gallant richtet sich an ein älteres Publikum, und da hätte ich das dann eher erwartet.
Nicht, dass es im Buch überhaupt keine Liebesgeschichte gäbe: Da entblättert sich langsam die Geschichte von Olivias Eltern, überliefert durch die Tagebücher ihrer Mutter und die fremden, ebenso ausdrucksstarken wie verstörenden Zeichnungen, die das Journal illustrieren, das Olivias kostbarster Besitz im Waisenhaus war, mit Klauen, Zähnen und einem Eimer voll Asseln und Asche gegen die anderen Mädchen und ihr Mobbing verteidigt. Olivia kann jedes Wort davon auswendig, kann schmerzlich nachvollziehen, wie ihre Mutter langsam in den Wahnsinn abgedriftet sein muss, und kennt doch nur die halbe Geschichte, weil sie den Hintergrund der Illustrationen nicht versteht. Erst in Gallant, und mit dem Vorgängertagebuch, lernt sie, die richtigen Verbindungen zu ziehen. Auch meine Ausgabe des Buches hat diese düster-verträumten halbabstrakten Illustrationen, die ein bisschen an Rohrschachtestbilder erinnern – sie sind stimmungsvoll, werten das hübsche Buch nochmal auf, und doch hätte ich sie nicht vermisst, wenn sie nicht dort wären.
Gallant selbst ist als Haus mit eigenem Charakter nicht so dominant, wie ich erwartet hätte. Für mich fällt es zusammen mit seinem bösen Zwilling in die Kategorie »Geheimnisvolles Haus«, aber zum »Fantasy Edifice« reicht es noch nicht, dafür muss das Haus für mich wirklich eine Hauptrolle spielen, und hier bleibt es doch ganz klar eine Kulisse – greifbar, bildhaft vorstellbar, aber eben nur ein Haus, keine Hauptfigur. Das tut dem Buch und der Spannung darin keinen Abbruch. Mehr wäre wahrscheinlich sogar Overkill gewesen. Mehr Charakter hat da für mich der Garten des Anwesens mit seinen Rosenbeeten und mit der verwitterten Mauer, die das Licht nicht richtig zu berühren scheint und hinter deren eisernen Tor etwas Böses lauert. Wirklich, ich bin noch nie in einem Buch einer derart bedrohlichen Mauer begegnet!
Aber die eigentlichen Hauptrollen in Gallant spielen dann doch die Menschen, und da kommt das Buch mit wenigen Handlungsträgern aus. Nachdem Olivia einmal das Waisenhaus hinter sich gelassen hat, gibt es nur noch die drei anderen Menschen, die das viel zu groß gewordene Haus bevölkern – aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick sind da noch die Ghule, diese unfertigen Geister, die Olivia schon als kleines Mädchen sehen konnte und von denen es in Gallant nur so zu wimmeln scheint. Sie sind niemals gruselig und sollen das auch nicht sein, traurige Erinnerung an den Niedergang einer Familie, die sich zu Großen berufen sah und daran schmerzhaft gescheitert ist. Wie Olivia sind die Ghule stumm, was sie über die familiären Bande hinaus zusammenschweißt, und so entsteht eine spannende Symbiose zwischen ihr, dem Haus und der Familie Prior.
Ich weiß nicht, ob ich Gallant jetzt als Meisterwerk bezeichnen würde, aber es hat mir so gut gefallen, und ich hatte so wenig daran auszusetzen, dass ich eine seltene Höchstnote vergeben habe. Es war genau das Buch, das ich gerade gebraucht habe – bis auf den Schluss. Ach, dieser Schluss! Der hat mir doch ein bisschen das Herz gebrochen. Er war nicht schlecht, auch wenn mir der Showdown ein bisschen zu dramatisch und blutig war im Vergleich zum ansonsten ruhig erzählten buch, aber ich hatte so sehr gehofft, dass die Geschichte anders ausgehen würde. So kommt es zur Katastrophe im klassisch-griechischen Sinn, und das Ende habe ich, auch wenn es auf einer Hoffnungsnote endet, als herzzerreißend traurig empfunden. Ich bin ein empfindsames Pflänzchen, was sowas angeht, aber eine Warnung muss sein: Es ist kein Feelgood-Buch, kein Cozy Mystery, es ist eine ernste Geschichte, in der es wenig auch nur zu lächeln gibt.
Aber es hat mir wirklich gut gefallen. Die Figuren waren stark, vor allem die sprachlose, aufmüpfige Olivia, die keine Stimme hat und darum um so viel Lärm in der Welt machen möchte, um nicht übersehen zu werden, und ihr schlafloser Cousin Matthew, so verletzlich, so kämpferisch. Es ist spannend geschrieben, genau die richtige Mischung aus vertrauten Gaslicht-Elementen und originellen Wendungen, die dem auf den ersten Blick abgedroschenen Genre noch etwas ganz Neues abgewinnen, und es hat mich wirklich berührt. Ich weiß nicht, ob Gallant etwas für jede:n ist. Aber wer wie ich ein Herz für unheimliche Herrenhäuser hat, dem lege ich dieses Buch nur allerwärmstens ans Herz. Und vielleicht lese ich jetzt doch noch die City of Ghosts-Folgebände. V.E. Schwab hat mich von sich überzeugt.