In einer Bahnhofsbuchhandlung bin ich über das Buch Ingenium von Danielle Trussoni gestolpert und hätte es mir beinahe sofort mitgenommen, so sehr sprang mich der Klappentext an – aber es war noch im letzten Jahr, als ich kaum etwas gelesen habe, und so verzichtete ich auf den Kauf. Aber ich packte es, im englischen Original, auf meine Wunschliste, und als ich Anfang dieses Jahres dann wieder anfing, mir neue Bücher zu kaufen, war es eines der ersten, die ich mir anschaffte – neben ziemlich vielen Fantasytiteln ein Mystery-Thriller, ein Genre, mit dem ich bisher nur extrem wenig zu tun hatte, aber ich dachte mir, es wird der Moment kommen, da ich ein bisschen Abwechslung brauche. Und da ich gerade tatsächlich die aktuelle Fantasy mit ihren siebzehnjährigen Heldinnen ein bisschen über habe, war dann der Zeitpunkt gekommen, The Puzzle Master zu lesen, oder besser: zu inhalieren.
Ich habe bis jetzt immer einen Bogen um die Bücher von Dan Brown gemacht, sie haben mich wirklich noch nie angesprochen mit ihrem religiös aufgeladenen Verschwörungsgedöns, aber ich kann mir vorstellen, dass sie doch ein bisschen in die Richtung von The Puzzle Master gehen könnten: Mit kryptischen Hinweisen auf uralte, mystische Geheimnisse. Ich habe immer noch keine Lust auf Dan Brown. Aber The Puzzle Master hat mir genau die Unterhaltung gegeben, die ich gerade brauchte, und wenn im Herbst die Fortsetzung erscheint, will ich die auch lesen, so viel Spaß hatte ich an dieser Achterbahnfahrt voller Puzzles, Rätsel, und Puppen.
Schwerer als die Frage, wovon dieses Buch handelt, zu beantworten ist die Frage, wovon es nicht handelt. Wirklich, Autorin Trussoni hat so viel in den Topf geschmissen und umgerührt, dass es einem ganz schwindelig wird, und immer wenn man denkt, jetzt ist es an der Zeit, einfach nur die losen Enden aufzudröseln, kommt der nächste Knaller hinzu. Es geht um Cypher- und Cyberpunk, die Kabbala, die Legende vom Golem, den Namen Gottes, Überwachungstechnik, Porzellanpuppen, und dabei habe ich jetzt bestimmt die Hälfte vergessen. Das ganze liest sich sehr intelligent konstruiert, aber wirklich, ich denke, Trussoni hätte den gleichen Stoff verlustfrei auf drei Bücher aufteilen können, denn so wirkt es oft wirklich ein bisschen zu atemlos, zu überfrachtet mit Motiven.
Verbunden wird das ganze durch Rätsel – Zahlen- und Buchstabenrätsel, und die sind es, die mich im Klappentext derart angesprungen haben, lange bevor ich wusste, dass in diesem Buch auch Puppen eine Rolle spielen. Ich liebe Puppen, je gruseliger, desto besser, aber ich liebe Rätsel eben auch sehr, und die Vorstellung von einem genialen Rätselmeister, der zur Hilfe gerufen wird, weil nur er mit einer verstummten Gefangenen kommunizieren kann, klang wie genau mein Buch. Habe ich bekommen, was ich mir erhofft habe? Tatsächlich nicht. Jess Price, die sprachlose Gefängnisinsassin, fängt tatsächlich sehr schnell an, doch wieder zu sprechen, und warum sie dann überhaupt mehr als drei Jahre lang geschwiegen hat, wird nie zufriedenstellend beantwortet, weil auch nie wirklich danach gefragt wird. Von allen Dingen, um die es in diesem Buch geht, ist Mutismus auf der Liste wirklich ganz hinten.
Dafür geht es um ein anderes neurologisches Phänomen: das Erworbene Savant-Syndrom, eine überaus selten vorkommende Kondition, bei der Menschen nach einer schweren Hirnverletzung geniale Züge entwickeln. So ist es Mike Brink, dem Protagonisten, ergangen: Eben noch war er ein aufstrebender Highschool-Quarterback mit NFL-Ambitionen, im nächsten schlägt er, getackelt, mit dem Kopf auf den Boden auf – um, von seiner schweren Gehirnerschütterung genesen, nur noch von Mustern umgeben zu sein. Dass er die neugewonnenen Fähigkeiten nutzt, um sich immer kniffligere Puzzle auszudenken, ist Notlösung wie Glücksgriff gleichermaßen für den zwischenzeitlich suizidalen Mike, der sich nach seinem MIT-Studium gegen eine Promotion entscheidet und lieber Rätsel für die New York Times entwickelt, nicht ohne zwischendurch ein bisschen mit Geheimdienst-Kryptographie rumgespielt zu haben.
Mike ist eine interessante Figur, genial auf der einen Seite, fragil auf der anderen. Als Synästhet nimmt er Zahlen als Farben wahr – menschliche Gefühle und der Umgang mit ihnen überfordert ihn dagegen. Musste die ganze Backstory mit dem Sportunfall sein? Hätte er nicht ein einfach von Anfang an mit dieser Gabe ausgestatteter neurodivergenter Mensch sein können? Es gibt weltweit nur rund fünfzig dokumentierte Fälle dieses Savant-Syndroms, und da wirkt es schon sehr an den Haaren herbeigezogen, dass ausgerechnet Mike es haben soll. Aber das ist symptomatisch für dieses Buch, das nicht kleckert, sondern klotzt und dabei nichts auslässt, das man irgendwie noch mitnehmen kann. Bestimmt ist das alles auch sehr gründlich recherchiert. Es ist nur wirklich alles ein bisschen viel.
Brink steckt jedenfalls ganz schnell in einem Action-Abenteuer, bei dem ihm auch sein Emotional Support-Dackel Connie nicht viel weiterhelfen kann. Kaum hat er sich im Frauenknast, von der Gefängnispsychologin eingeladen, mit der wegen Mordes inhaftierten Autorin Jess getroffen, da wird er auch schon verfolgt, sein Motelzimmer verwüstet, und er kommt kaum dazu, das geheime Tagesbuch, das er unterwegs abgestaubt hat, zu lesen – wie gut, dass er ein eidetisches Gedächtnis hat und eine Seite Text nur einmal mit den Augen abfotografieren muss, um sie zu erfassen! So kann er doch schnell, quasi im Vorübergehen, auch Jess‘ Version der Geschichte mitnehmen – wie sie als Housesitterin in einer herrschaftlichen Villa voller verstaubter Porzellanpuppen über ein dunkles Geheimnis stolpert, das letztlich ihren Freund das Leben kosten soll.
Da Jess Autorin ist, sind ihre Tagebuchaufzeichnungen ein kleiner Gastlichtroman in sich, und als solcher ebenso nett wie gruselig zu lesen – ein Buch-im-Buch, sozusagen. Und was das angeht, habe ich kein Problem damit. Das ist eine klar vom Rest der Handlung abgetrennte Ebene, ebenso wie die später ins Spiel kommenden Briefe des Fin-de-Sciècle-Puppenmachers La Moriette, und eine nette Unterbrechung der eigentlichen Handlung. Weniger ansprechend fand ich, dass zwischendurch die Perspektive der Gegenwarts-Handlung unmotiviert zu einem Typ namens Cam Putney springt, der sowas wie ein Minion des Oberschurken ist und bei dessen Einlassungen ich immer das Gefühl bekomme habe, ich erfahre gerade etwas, das ich weder erfahren sollte, noch wissen will. Ich will bei Mike Brink bleiben und die Dinge erfahren, wenn er sie herausfindet, nicht, weil ich mittendrin dem Schurken über die Schulter schauen darf. Es sind wenige kurze Kapitel, um die es da geht, aber gerade deswegen hätte Trussoni sie – aus meiner Warte – besser weggelassen.
Spannend geschrieben ist das Buch dabei allemal, weswegen ich kaum mehr als zwei Tage gebraucht habe, um die gut 360 Seiten zu Ende zu lesen. Es erinnerte mich streckenweise an ein Buch, das ich Anfang der Neunziger gelesen hatte: Lügenlandschaft von Peter Watson, indem ein altes Bild Hinweise auf einen versteckten Schatz bietet, hinter dem bald Freund wie Feind her sind, und ich habe gerade Lust bekommen, dieses Buch auch noch einmal zu lesen. Aber Lügenlandschaft war ein Thriller ohne phantastische Elemente – etwas, das man von The Puzzle Master nicht sagen kann. Mike Brink watet bald knietief im Übernatürlichen, er hat Vorahnungen, Klarträume, im leeren Haus ruft ein zartes Stimmchen nach Jess, ein moderner Golem schlägt im Prag der Jahrhundertwende seine Augen auf, und neben einem skrupellosen Kryptographie-Guru haben wir es auch gleich mit Widersachern aus nichts Geringerem als der Bibel zu tun – wirklich, warum kleckern, wenn man auch klotzen kann?
Aber die Art, wie diese viel zu vielen Elemente miteinander verflochten sind, ist so geschickt, dass man überhaupt kein Interesse hat, innezuhalten und ungläubig den Kopf zu schütteln. Das ist alles handwerklich gut gemacht, wirkt konsistent, wirklich gut konstruiert – nur ernst nehmen darf man es dabei nicht. So viel Arbeit die Autorin in ihre Recherchen gesteckt hat, so wenig darf man dieses Buch für bahre Münze nehmen. Es hat mich unterhalten, darum ging es mir, aber ich fange jetzt nicht an, die vermeintlich revolutionären Enthüllungen, die es am Ende des Buches über Wesen und Natur Gottes gibt, für irgendwie kanonisch zu halten. Die Herleitung war derart abenteuerlich und hat stellenweise auch die Pfade der Logik verlassen – wenn Brink erst zu dem Schluss kommt, ein Teil des mystischen alten Puzzles müsste Binärcode sein, dann kann nicht genau die gleiche Sequenz fünfzig Seiten später Quantencomputing sein. Oder habe ich da etwas verpasst, nicht mitbekommen, falsch verstanden? In dem Buch passiert so viel, dass mir immer noch der Schädel davon schwirrt.
Ganz so viel Action hätte ich dann auch wirklich nicht gebraucht, und mit Widersachern ein paar Nummern kleiner wäre ich ebenso zufrieden gewesen: Für mich hätte es stattdessen noch mehr Rätsel geben können, am besten solche, bei denen man ein bisschen mitraten kann. Was zugegeben schwer ist, wenn der Protagonist eine knifflige Aufgabe nur anzuschauen braucht, damit sich vor seinem inneren Auge die Lösung entblättert. Aber ja. Wenn das Buch The Puzzle Master heißt, gebt mir keine Verfolgungsjagden! Gebt mir Puzzle!
In jedem Fall hat Trussoni mit Mike Brink eine Figur erschaffen, die das Potenzial zum Serienhelden hat – wobei fraglich ist, wie die Herausforderung aus dem ersten Buch noch glaubwürdig getoppt werden kann: Zurückentwickeln soll sich der rätselaffine Held schließlich nicht, und dann ist die Frage, über wie viele Bände er sich noch weiterentwickeln kann, wenn er eigentlich jetzt schon alles erreicht hat, was man irgendwie erreichen kann. Aber es gibt eben noch Raum für mehr Rätsel, und so erscheint dann im Oktober die Fortsetzung, The Puzzle Box, interessanterweise bereit ab September auf Deutsch lieferbar unter dem Titel Invictum. Ich freu mich drauf.