Erin A. Craig: House of Salt and Sorrows

Märchenadaptionen sind zurzeit ein großer Trend. Aber obwohl ich mit Märchen aufgewachsen bin und sie bis ins Erwachsenenalter hinein geliebt habe, habe ich noch nie eines dieser Bücher gelesen. Vielleicht ist es sogar andersherum: Gerade weil ich diese Märchen so sehr liebe, so wie sie sind, mag ich die Vorstellung nicht, dass sich jemand zu große Freiheiten mit ihnen erlaubt, und lese stattdessen lieber das Märchen selbst nochmal. Jetzt aber habe ich meine erste Märchenadaption gelesen, und ich muss sagen, dass mir das Buch sehr gut gefallen hat.

Gekauft habe ich mir House of Salt and Sorrow, weil mir der Klappentext gut gefiel, ohne auch zu nur wissen, dass da ein Märchen Pate gestanden hatte, und als es dann da war und hinten drauf stand, dass es tatsächlich eine Adaption der Zertanzten Schuhe war, war ich erst einmal enttäuscht und habe das Buch beiseitegelegt. Das war vor vier Jahren. In der Zwischenzeit habe ich aber so viel Gutes über das Buch gehört, und überhaupt will ich die Bücher, die ich mir im Laufe der Jahre zusammengekauft habe, auch endlich lesen, und jetzt war es endlich soweit. Und es war eines meiner Jahreshighlights, muss ich sagen.

Die zertanzten Schuhe sind nicht mein Lieblingsmärchen. Ich habe sie einmal gelesen, als ich Grimms gesammelte Märchen von vorn bis hinten durchgearbeitet habe, aber irgendwie hat es mich nicht so bewegt wie andere, und es war keines, das ich dann immer und immer wieder hätte lesen müssen. Deswegen hat mich der Klappentext auch erstmal nicht an das Märchen denken lassen – aber die Geschichte von zwölf Schwestern in einem herrschaftlichen Anwesen am Meer, von denen eine nach der anderen stirbt, klang wie ein makabrer Gaslichtroman ganz nach meinem Geschmack, und das war auch der Grund, warum ich es mir gekauft habe – ich musste weniger an die Gebrüder Grimm denken und mehr an Agatha Christies And Then There Were None, muss ich zugeben. Dass am Ende habe doch nicht alle Schwestern tot sind – so viel zumindest will ich verraten – hat mich kein bisschen enttäuscht. Tatsächlich waren mir Annaleigh und ihre Schwestern da so sehr ans Herz gewachsen, dass ich doch sehr traurig gewesen wäre, noch eine von ihnen gehen zu lassen.

Von den zwölf Schwestern, um die es geht, sind zu Beginn des Buches nur noch acht am Leben, und wir werden mit der Beisetzung der neunten direkt in die Handlung geworfen – und in den wunderschönen Weltenbau, denn die Gruft der Familie Thaumas liegt nicht einfach nur am Meer – der Inhalt des Sarges wird nach und nach ins Meer hinausgespült, und so kehren die Menschen des Salzes zurück in das Salz, aus dem der Meeresgott Pontus sie erschaffen hat. Ich mag schönen, originellen Weltenbau gerne, ich mag Bestattungsrituale, und hier bin ich auf meine Kosten gekommen. Es gibt die salzigen Inseln, ein Leuchtturm – ich mag Leuchttürme! – spielt eine größere Rolle, dazu gab es ein knarzendes altes Haus, und damit hatte das Setting alles, was ich zum Glücklichsein brauche.

Aber ein Setting allein erzählt keine Geschichte – wichtig sind die Figuren, die es bevölkern. Nicht weniger als zwölf Schwestern, ihre Familie und Angestellten führen dazu, dass es ziemlich viele wichtige Figuren gibt, und Autorin Craig schafft es gut, sie alle mit Leben zu führen. Dabei lernt man sogar die bereits vor Beginn der Handlung verstorbenen Schwestern so gut kennen, dass man das Gefühl hat, sie noch miterlebt zu haben – tatsächlich erschienen sie mir noch eine Spur detaillierter ausgearbeitet als einige der lebenden Schwestern, die in drei Blöcke eingeteilt sind: Die beiden Ältesten, dann die Drillinge, dann die drei Jüngsten, Grazien genannt. Natürlich haben nicht alle gleiche Anteile an der Handlung, einige Schwestern sind wichtiger als andere, aber zwei der Drillinge und die älteren beiden Grazien kommen ein bisschen zu kurz im Vergleich und bleiben blasser als die, die bereits tot sind.

Das hat mich aber nicht so sehr gestört. Die Handlung folgt Annaleigh, der zweitältesten überlebenden Schwester – ein Mädchen, das Meerschildkröten in der Badewanne aufpäppelt und davon träumt, einmal Leuchtturmwärterin zu sein, und nachdem ich mich ja zuletzt ein bisschen beschwert hatte, dass ich zu viele zu ähnliche siebzehnjährige Fantasy-Heroinen in zu kurzer Zeit gelesen hatte, war mir Annaleigh dann doch wieder erstaunlich sympathisch (sie ist keine siebzehn, sondern achtzehn oder neunzehn, was aber jetzt keinen so großen Unterschied mehr macht, wenn man selbst auf die fünfzig zugeht). Natürlich kommt das Buch nicht ohne Love Interest aus, und bei so einer großen Cast ist sogar Platz für zweie davon – und so findet sich Annaleigh bald hin- und hergerissen zwischen ihrem Kindheitsfreund Fisher, seines Zeichens Leuchtturmwärterazubi, und dem geheimnisumwitterten Cassius, zu dem sie sich geradezu magisch angezogen fühlt.

Eine Frau zwischen zwei Männern – das heißt meistens, das mit einem davon etwas nicht stimmt, und so hatte ich schnell jemanden im Verdacht, als im Raum zu stehen beginnt, dass bei dem Tod von mindestens einer von Annaleighs Schwestern jemand die Hände im Spiel gehabt haben könnte. Dafür habe ich zu viele Krimis gelesen, und zumindest zum Teil meine Verdächtigungen sich auch bewahrheitet – aber eben nur zum Teil, ich habe nicht das ganze Buch vorhersehen können, und auch das gehört zu den Sachen, die mir gefallen haben. Vielleicht hätte ich es besser gefunden, wenn am Ende eine andere Figur als Drahtzieher dagestanden hätte, aber so, wie der Plot aufgelöst worden ist, war es immanent logisch, und ich konnte den Schluss akzeptieren, mit Abstrichen.

Da gibt es einen dramatischen Showdown, den fand ich unnötig aufgebläht – ein Sturm hätte mir gereicht, den ganzen Rest davon hätte ich nicht gebraucht, und das Erzähltempo fand ich auch gut, so wie es die ersten achtzig Prozent des Buches über war – aber ich habe es ja nicht so sehr mit Action. Da mag ich lieber Suspense, sanften Grusel, und die Frage, was nun Wahn ist und was Wirklichkeit, und davon hatte ich in House of Salt and Sorrows wirklich eine Menge. Bis kurz vor dem Schluss wird nicht klar, ob es im Haus spukt, ob Annaleigh dabei ist, den Verstand zu verlieren, oder ob da ganz andere Dinge am Werk sind, und ich habe mitgefiebert und mitgeraten, dass es eine Freude war.

Weniger überzeugt hat mich erst einmal der grimm’sche Teil der Geschichte, den mit den sprichwörtlich zertanzten Schuhen. Den fand ich erstmal ziemlich disjunkt vom Rest der Handlung. Ich wollte mehr Zeit mit detektivischen Ermittlungen verbringen, mit der Frage, wer Eulalie die Klippen hinuntergestoßen hat und ob vielleicht schon die Tode der älteren Schwestern mehr waren als nur Unglücksfälle, und stattdessen stolpern die acht Mädchen ziemlich unmotiviert durch ein Portal, landen auf einem Ball und tanzen sich die Füße wund – das wirkte erst einmal ziemlich sinnlos an die Handlung drangeklatscht, als wäre es nicht ursprünglich Teil der Geschichte gewesen, sondern dazu gepackt worden, um das Buch als Märchenadaption vermarkten zu können.

Erst im Verlauf der Handlung wachsen die Teile zusammen, und auch wenn die Szenen, in denen die Schwestern einen Ball nach dem anderen besuchen, statt noch länger um die Verstorbenen zu trauern, nicht zu meinen Lieblingsszenen gehörten, ergibt zum Ende des Buches das alles doch einen Sinn – wobei ich denke, es wäre letztlich auch ohne das ganze Tanzen genauso gut gegangen oder vielleicht sogar noch besser. Aber ich habe mir dieses Buch ja auch nicht gekauft, weil ich die Zertanzten Schuhe so sehr geliebt hätte, sondern wegen des ganzen Drumherums, und jemand, der das Märchen liebt, kann da ganz anders drüber denken.

Mir hat das Buch gefallen, weil ich die Psychologie dahinter interessant fand. Es ging immer wieder um die Frage, was Trauer aus einem Menschen machen kann. Wenn immer wieder jemand, der einem nahesteht, stirbt – stumpft man dann ab gegen den Kummer? Stürzt man sich erst recht ins Leben, weil man versteht, wie kostbar es ist? Oder versinkt man in Kakophonie? Jede der Schwestern hat andere Wege, mit der Trauer umzugehen, und irgendwie hat jede von ihnen recht. Dabei ist die Dynamik zwischen den Schwestern immer präsent, immer glaubwürdig, und eigentlich hätte ich die ganze Liebesgeschichte nicht gebraucht, hätte mir der schwelende Konflikt zwischen Annaleigh und Camille als Drama ausgereicht. Auch die Eltern sind dabei interessante Figuren: Der verwitwete, frisch wiederverheiratete Vater ist eine sehr ambivalente Figur, mal liebevoll, mal aufbrausend, mal abwesend, und auch Morella, die Stiefmutter, entspricht so gar nicht den Böse-Stiefmutter-Klischees- mit denen ich gerechnet hatte. Da war wirklich vieles dran, das mich überzeugen konnte!

Die Geschichte von House of Salt and Sorrow ist in sich abgeschlossen. Es gibt eine Fortsetzung, House of Roots and Ruin, welche die Geschichte einer der jüngeren Schwestern erzählt, und angeblich ist ein dritter Teil in Vorbereitung – genug Schwestern sind es ja, um noch mehr als eine Geschichte erzählen zu können. Doch ich mag diese Welt wirklich gern, und ich mag die Schwestern, und deswegen will ich zumindest den zweiten Band sehr gerne lesen. Basiert der auch auf einem Märchen? Das will ich eigentlich gar nicht wissen. Ich habe dieses Buch um seiner selbst willen gelesen. Aber vielleicht ist das auch das Geheimnis einer guten Märchenadaption – ßdass man sie vom Märchen losgelöst betrachten kann, dass sie etwas Eigenes draus macht.

Jedenfalls habe ich jetzt keinen Grund mehr, einen Bogen um Märchenadaptionen zu machen. Und auch das Märchen von den zertanzten Schuhen könnte ich mir nach all den Jahren doch noch einmal vornehmen.

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