Trotz des wirklich wunderschönen Covers, Titels und Klappentextes war ich kein großer Fan von All the Dead Lie Down, und so war ich nicht übermäßig erfreut, gleich das nächste Buch von Kyrie McCauley aus der Locked Library zu ziehen. Dabei hatte ich mich nach dem Teaser, mit dem Harper Collins das Thema der Überraschungs-Buchbox angekündigt hatten, noch richtig auf das Juli-Buch gefreut: Eine sapphische Geschichte nach Motiven von Shakespeare, das klang doch sehr wie ein Buch für mich, bis ich dann die Autorin auf dem Cover las.
Aber das Buch war nun mal da, und ich bei V.E. Schwab hatte ich die zweite Chance, die ich ihr gegeben hatte, nicht bereut – und überhaupt, das war nicht irgendein Shakespeare-Stück, das da als Inspiration für Bad Graces hatte herhalten dürfen, sondern ausgerechnet The Tempest, und so wollte ich doch zumindest mal reinlesen, und sei es, um das Ganze am Ende beherzt verreißen zu können. Und dann las ich und las ich und las das ganze Buch in einem Rutsch durch, und auch wenn es nicht perfekt war, hat es mir doch um längen besser gefallen als All the Dead Lie Down.
Was Shakespeare angeht, habe ich zwei erklärte Lieblingsstücke, die mir wirklich viel bedeuten. Das eine ist Hamlet – das ich im Studium zusammen mit meinen Freundinnen gespielt habe und bis heute auswendig kann -; das andere ist der Sturm, das erste Shakespeare-Stück, das ich jemals im Theater gesehen habe und mit dem sich eine völlig neue Welt für mich aufgetan hat. Bad Graces ist, das muss ich gleich dazusagen, keine Nacherzählung dieses Stückes. Das Buch verwendet sehr frei eine Handvoll Motive daraus, und das ist es auch schon. Nur für meine Liebe zu Shakespeare und seinem Sturm würde ich dieses Buch jetzt nicht empfehlen. Aber es ist etwas eigenes, erzählt seine Geschichte überzeugend und originell, und das ist es, was mir daran gefallen hat.
Gemeinsam haben beide, Tempest und Bad Graces, in erster Linie den Schiffbruch, der eine Handvoll Menschen auf einer scheinbar verlassenen Insel stranden lässt. Nur, dass diese nicht im sonnigen Mittelmeer liegt, sondern ausgerechnet abgelegen irgendwo vor der Küste Alaskas. Und an Bord sind nicht der König von Neapel und sein Hofstaat, sondern die junge Liv, die bei einem Schreibwettbewerb eine Stelle als Praktikantin beim Film gewonnen hat, und die dazugehörigen Schauspielerinnen – eine Riege von fünf jungen Mädchen in Livs Alter, sowie der Produzent, der, statt sich ins Flugzeug zu setzen, mit seinen Stars per Yacht zum Drehort anreisen möchte.
Das fand ich schon arg konstruiert, und konstruiert ist auch ziemlich viel anderes an der Geschichte: Liv ist nämlich nicht, wer sie vorgibt. Nicht sie selbst hat an dem Wettbewerb teilgenommen, sondern ihre scheinbar perfekte, gut angepasste Zwillingsschwester, und das Buch wendet viel Zeit darauf auf, das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern zu skizzieren, nur damit Everly, nachdem Liv einmal ihre Identität geklaut hat, keine Rolle mehr spielt. Und auch der Hintergrund der beiden, früh verwaist, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht, wo die unangepasste Liv stört und zündelt und sich die Haare abschneidet, wirkt nicht realistisch. Denn für den Rest des Buches über ist die angeblich so unangepasste, zornige Liv ein Ausbund an Vernunft und Seelenruhe, und von der Einführung abgesehen hätte man die ganze Hintergrundgeschichte auch weglassen können. Am Ende wird dann zwar kurz thematisiert, warum Liv wirklich das Haus ihrer achten Pflegefamilie angezündet hat und dass sie nie so schlimm war, wie ihre Sozialarbeiter von ihr dachten, aber für den Verlauf der eigentlichen Handlung ist das alles praktisch ziemlich egal.
So kommt der relevante Teil erst, als Liv an Bord der Yacht Bianca geht und dort die für das Buch wichtigen Figuren trifft: Popstar Paris, die englischen Schauspielerinnen Effie und Miri, Turnerin Rosalind und Instagrammerin Celia. Die fünf kennen sich seit langem, sind eng miteinander befreundet, und Liv befürchtet, außen vor zu bleiben, wird aber doch schnell und ohne aufgebauschte Starallüren in die Gruppe mitaufgenommen. Das fand ich angenehm an der Geschichte: Dass eben nicht nur herumgezickt wird, das die Mädchen von Anfang an zusammenarbeiten und es kein großes Hauen und Stechen gibt.
Logisch, dass ausgerechnet diese fünf die Stars des Filmes sein sollen, ist es aber nicht: Denn bei dem Film handelt es sich um eine Adaption des Sturms, ein Stück, das von Haus aus genau eine größere Rolle für eine Darstelllerin mitbringt (zwei, wenn man Ariel weiblich besetzt), und wen diese Mädchen dann alles spielen sollen, wird nie gesagt. Miri zitiert zwischendurch Teile ihres Textes und soll offenbar Miranda spielen (kann man sich bei ihrem Namen ja denken), aber was ihre Schwester und die drei anderen, die noch nicht mal Schauspielerfahrung mitbringen, in dem Film machen sollen, bleibt uns die Autorin schuldig. Das ist einfach nur Teil des Konstrukts. Und zum Konstrukt gehört dann auch, dass die Yacht sinkt und die Mädchen an einer fremden Küste angespült werden.
Ich war noch nie in Alaska, und wenn man mir nicht gesagt hätte, dass diese Insel dazugehört, wäre ich von der Beschreibung her auch nicht auf die Idee gekommen. Es gibt eine wilde Flora mit feigenähnlichen Früchten, von denen sich die Mädchen ernähren können, es gibt mindestens einen Wolf, von dem nie erklärt wird, wie der auf so eine abgelegene Insel kommt, und das gleiche gilt auch für die ebenfalls dort lebenden Rehe: Nach dem, an was ich mich noch aus meinem Biologieunterricht erinnere, sollte es auf einer Insel, die so weit entfernt von allem anderen Land liegt, in erster Linie Vögel geben, aber natürlich ist dieses Buch keine Naturdokumentation, und dann muss ich wohl den unerklärlich großen Wolf und die Rehe akzeptieren. Und natürlich lebt noch etwas auf der Insel, etwas unheimliches, das die Mädchen in ihren Träumen heimsucht.
So wird der Sturm schnell zur Robinsonade, wenn die Mädchen versuchen, mit dem, was sie vom Boot retten konnten und was sie auf der Insel finden, zu überlebeben. Liv bringt Survivalkenntnisse mit, die sie von ihrer camping- und naturbegeisterten Schwester abgeguckt hat, und stellenweise habe ich an die einschlägigen Computerspiele denken müssen, in denen man so lange Bäume boxt, bis man sich aus ihrem Holz das erste primitive Werkzeug herstellen kann. Aber der Schiffsuntergang hat seine Spuren an den Mädchen hinterlassen, einige von ihnen sind verletzt, und so merken sie schnell, was auch der Klappentext schon verraten hat: Dass jede Wunde, die sie sich auf der Insel zuziehen, eine Metamorphose zur Folge hat. Die ist für jede von ihnen individuell: So wachsen Rosalind an ihrem verletzten Fuß Schuppen und Schwimmhäute, während aus Livs kaputter Schulter Pilze zu sprießen beginnen – und je nachdem, was die Insel ihnen an körperlichen Merkmalen beschert, bekommen sie auch noch ein paar Superkräfte obendrein.
Das Ganze, wenn ich versuche, es zusammenzufassen, klingt ziemlich konfus und weit hergeholt, aber das Buch las sich wirklich spannend, stellenweise gruselig, und ich wollte immer wissen, wie es weitergeht. Dass es dann auch noch zu einer Liebesgeschichte zwischen Liv und Miri kommt, fügte sich nahtlos und schön in die Handlung ein, war aber nie ihr Hauptbestandteil. So wie Paris und Celia schon zu Beginn der Handlung ganz selbstverständlich ein Paar sind, kommt es dann eben auch zwischen Liv und Miri zur Romanze, und ich lese wirklich gerne queere Liebesgeschichten, aber ich bevorzuge es, wenn wie hier die Liebe nicht zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung wird, sondern wie hier eher nebenbei abgefrühstückt wird.
Ohne Aussicht, die Insel wieder verlassen zu können – das Funkgerät war schon vor dem Sturm, der die Bianca versenkt hat, ausgefallen, die Crew weit vom Kurs abgekommen, und auch wenn nach den Verschwundenen gesucht wird, weiß niemand, wo sie sind, geschweige denn, dass diese Insel überhaupt existiert – arrangieren sich die Mädchen mit ihrer Umgebung und ihren fortschreitenden Mutationen, und man bekommt den Eindruck, dass es das Beste für sie ist. Auf der Insel sind sie frei, können sie lernen, sie selbst zu sein, werden nicht mehr sexuell belästigt (etwas, womit jede von ihnen schon bittere Erfahrungen gesammelt hat), und für mich hätte das Buch auch damit ausklingen können, dass sie auf der Insel bleiben und ein wildes, freies, glückliches Leben führen, eins mit der Insel und dem, was auf ihr lebt.
Aber stattdessen gibt es einen Schluss, der das Ganze für mich ein gutes Stück ruiniert hat, eine Auflösung, die wie drangeklatscht wirkt und mich mehr geärgert als überzeugt hat. Das Ende fügt keine losen Fäden zusammen, und ich hatte das Gefühl, auch wenn ich das nur raten kann, dass dieser Schluss nicht das Ende war, das Kyrie McCauleys selbst schreiben wollte, sondern ihr von ihrer Lektorin nahegelegt worden ist – es will nicht zum Rest passen, es nimmt dem Buch die Dichte, wirkt nicht mehr so lebendig wie der Rest, ein Appendix, den man besser weggelassen hätte. Ein schlechter Schluss kann ein gutes Buch ruinieren – ich will nicht sagen, dass Bad Graces jetzt ein ruiniertes Buch ist, aber hätte es elf Seiten früher geendet, es hätte so viel stärker bleiben können.
Trotzdem bekommt das Buch eine Empfehlung von mir. Es war spannend, es war poetisch und wild und ziemlich originell, und ich konnte ihm auch verzeihen, dass es in der ersten Person im Präsenz geschrieben war, was einfach nicht meine Lieblingserzählform ist, und ich langsam die siebzehnjährigen weiblichen Hauptfiguren, die so ziemlich jedes Buch der Locked Library hat, leid bin. Es hatte, von ein paar Zitaten abgesehen, ziemlich wenig Shakespeare. Und doch habe ich den Tag, den ich mit diesem Buch verbracht habe, sehr genossen, bin tief in die Geschichte eingetaucht, und habe nicht bereut, der Autorin diese zweite Chance gegeben zu haben.