Es ist bestimmt an die vierzig Jahre her, dass ich zuletzt im Zirkus war, und es hat mir auch nicht gefehlt – ich habe zu viel daran auszusetzen, unter welchen Bedingungen dort Tiere gehalten werden oder wie aggressiv Zirkusse im Winter mit traurig aussehenden Ponys in der Fußgängerzone um Spenden werben. Aber das ändert nichts daran, dass ich gern über Zirkusse in Büchern lese – da kommen keine echten Tiere zu schaden, da sind spektakuläre Stunts möglich, da ist alles nochmal so laut und bunt wie in Wirklichkeit. 2011 habe ich Water for Elephants sehr gern gelesen, auch wenn mich dann die Verfilmung nicht mehr gereizt hat, aber das war dann auch das letzte Zirkusbuch, das ich gelesen habe.
Über die Jahre, während derer ich nicht gelesen habe, sind hier einige Zirkusbücher angelaufen, und das erste davon habe ich mir jetzt vorgenommen – ich wollte ein Kinderbuch lesen, das nicht zu viel geistige Anstrengung verlangte, und da sah Der Zirkus der Diebe und die lausige Lotterie des Briten William Sutcliffe wie die richtige Wahl aus. Das Buch hatte ich mir vor Jahren mal über die Büchergilde Gutenberg bestellt und dann doch nur unbesehen ins Regal gestopft – jetzt war seine Zeit gekommen. Und der Klappentext klang vielversprechend, mit einem Zirkus, der eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver für die ausgeklügelten Diebestouren seiner Mitglieder darstellt: Das ist mal etwas anderes als die Geschichte vom ausgekommenen Löwen, die ich selbst mit acht Jahren unter dem Titel Zirkus in der Stadt zu Papier gebracht habe!
Aber tatsächlich ist jetzt Klappentext schuld, dass ich an dem Buch nicht so viel Freude hatte, wie ich gerne gehabt hätte. Oder schon der Titel des Buches. Die verraten nämlich beide einfach viel zu viel. Dass der Zirkus aus Dieben besteht, wird nämlich überhaupt erst nach zwei Dritteln des Buches aufgedeckt. Bis dahin gibt es natürlich zahlreiche Andeutungen, aber wo ich sonst Spaß gehabt hätte, mir das selbst zusammenzureimen, habe ich es so schon schwarz auf weiß, bevor ich auch nur eine Seite gelesen habe. So sehr bin ich nicht mehr gespoilert worden, seit mir ca. 1990 die Taschenbuchausgabe des Krimis Inspector Jury sucht den Kennington-Smaragd per Klappentext den Juwelendieb und Mörder verraten hat. sowas macht man nicht! Aber hier kann ich noch nicht mal der deutschen Übersetzung die Schuld geben. Auch auf Englisch heißt das Buch The Circus of Thieves and the Raffle of Doom, und auch wenn da der Klappentext nicht ganz so sehr ins Detail geht wie bei der deutschen Ausgabe, wird auch hier schon zu viel verraten.
Damit scheitert das Buch schon an der ersten wesentlichen Hürde – es gelingt ihm nicht, Spannung aufzubauen. Die Geschichte von Kleinstadtmädchen Hannah, die sich für den Zirkus und ihren neuen Freund Billy begeistert, nur um dann entsetzt des Zirkus wahre Machenschaften aufzudecken, will nicht in Fahrt kommen und nimmt mich nicht mit. Dank des Klappentextes kenne ich schon gut achtzig Prozent der Handlung, nur die eigentliche Auflösung fehlt mir noch, und die ist leider nicht besonders gut. Vielleicht bin ich zu obrigkeitshörig, aber ich hätte erwartet, dass ein unbescholtenes Mädchen, das von einem perfiden Plan erfährt, die Stadt auszuplündern, damit als allererstes zur Polizei geht und erst, nachdem man ihr da nicht glaubt, beschließt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Aber Hannah kommt überhaupt nicht auf die Idee, sondern schmiedet zusammen mit Billy gleich einen waghalsigen Plan, der einen geklauten Lastwagen beinhaltet und nicht zur kindlichen Nachahmung empfohlen ist.
Das Buch endet abrupt und offen. Viele Fragen werden nicht beantwortet – sie sind sogar, wie als Service, am Ende des Buches noch einmal zusammengefasst – und für englischsprachige Leser heißt es dann: Weiter mit Band zwei der Trilogie. Doch auf Deutsch ist nur der erste Band erschienen, Teil zwei und drei Fehlanzeige, und da liest sich die Fragenliste am Ende des Buches wie ein Hohn. Ich wüsste doch auch zu gerne, wie es jetzt mit Billy und Hannah und dem Zirkus weitergeht, gerade weil ich dazu noch keine Klappentexte kenne und jetzt schon bekannt ist, dass es ein Zirkus der Diebe ist. Aber Fehlanzeige. Die späteren Bücher fehlen hierzulande genau wie die Illustrationen der Originalausgabe. Kinderbücher, gerade für die Altersgruppe ab acht, in die ich dieses Buch einsortieren würde, leben auch von ihren Illustrationen, und das deutsche Buch hat genau zwei davon – eine Vignette von Hannah in ihren Gummistiefeln und eine von Billy auf seinem Kamel, und die kommen im Wechsel mit jedem Kapitelanfang.
Ich weiß nicht, wie viel mir da entgangen ist. Die Vignetten der deutschen Ausgabe – gezeichnet von Iacopo Bruno – sind durchaus hübsch anzusehen, während ich das, was ich von David Tazzymans englischen Originalillustrationen gesehen habe, ziemlich hässlich finde, aber das ist nur mein persönlicher Kunstgeschmack, und ich kann mir vorstellen, dass Kinder mehr damit anfangen können. Bleibt also das, worüber ich mich immer am meisten beschwere: Die deutsche Übersetzung. Und was die angeht, habe ich tatsächlich einmal nichts zu meckern. Sybille Schmidt hat es geschafft, Sutcliffes Buch lebendig und voller Wortwitz so zu übersetzen, dass mir die Originalfassung kaum gefehlt hat. Vielleicht landet nicht jede Pointe, vielleicht sind manche Stellen zu flapsig, aber ich kann mir vorstellen, dass die im Original auch nicht wirklich besser waren.
Das Buch ist in munterem Plauderton geschrieben und enthält eine ganze Reihe von Fußnoten, die nicht, wie üblich, mit Sternchen oder Zahlen auf ihre Erläuterungen verweisen, sondern mit einer großen Auswahl an Symbolen, als hätte man im Buchsatz eine Dingbats-Lizenz gehabt, die dringend einmal eingesetzt werden müsste, um ihre Anschaffung zu rechtfertigen. Da wird man als Leser:in direkt angesprochen, und die Erzählstimme ist letztlich die eigentliche Hauptfigur des Buches, während die kindlichen Protagonisten, ihre tierischen Sidekicks und sogar die schrulligen Zirkusangehörigen dabei irgendwie blass bleiben. Klar, das Kamel pupst, andauernd, und so gibt es eine Menge Kamelpupswitze, aber das nutzt sich doch ziemlich schnell ab.
Ich will dem Buch nicht Unrecht tun: Die Figur des Billy bringt eigentlich das Potenzial mit, ein interessanter Charakter zu sein. Ein innerlich zerrissener Junge, der auf der einen Seite den Zirkus liebt, auf der anderen Seite vom garstigen Direktor zum Stehlen gezwungen wird, bis er sich mit Hannah anfreundet und sein Gewissen entdeckt, daraus hätte man mehr machen können. Aber Billy ist neben Hannah nur eine Nebenfigur, und Hannah ist so dermaßen normal, als Figur so dermaßen uninteressant konzipiert – wahrscheinlich, damit sich auch wirklich jedes Kind mit ihr identifizieren kann – dass es die Geschichte ordentlich runterzieht. Ja, Hannah ist furchtlos, ideenreich, und findet immer einen Weg, selbst wenn er über einen Baum aufs Kamel hinauf führt, aber sie bleibt über alldem bis zum Ende blass.
Da ist ihre Oma, die nur eine winzige Rolle spielt, allemal interessanter, und als ich mich dabei ertappt habe, mich ausgerechnet mit der Oma zu identifizieren, habe ich gemerkt, dass ich doch langsam alt werde. Aber ein buntes, witzig geschriebenes Buch über einen schrägen Zirkus verlangt nach einer Riege schräger Gestalten, und Der Zirkus der Diebe und die lausige Lotterie versucht redlich, mit solchen Figuren aufzuwarten, und wirkt dabei doch nur bemüht. Die Akteure, Clowns und Akrobaten werden zwar lang und breit und viel zu wortreich vorgestellt, spielen dann aber – zumindest in diesem ersten Buch – kaum eine nennenswerte Rolle. So gehen weite Teile des Buches mit der Einführung des Zirkus drauf, es bleibt einfach viel zu wenig übrig, das da noch passieren könnte, und dann reißt auch schon die Handlung ab, und ohne Fortsetzung schaut man in die Röhre.
Natürlich wäre es ein leichtes, mir jetzt die beiden Fortsetzungen auf Englisch zu bestellen. Aber das Buch hat mich dann doch zu wenig überzeugt, als dass ich jetzt noch zweie von der Sorte würde lesen wollen, noch dazu mit Illustrationen, die mir nicht so gut gefallen. Das Buch war nett, aber bis zur Selbstverliebtheit geschwätzig, nicht witzig genug, und hat mich einfach nicht packen können, auch wenn ich es schnell runtergelesen habe. Aber das Buch hat mir Lust gemacht, wieder mehr über den Zirkus zu lesen. Wie erwähnt, habe ich noch mehrere andere Zirkus-Bücher hier liegen – das eine ist Erin Morgensterns vielgerühmter Nachtzirkus, das andere heißt Circus of Puppets und stammt von einer alten Autorenfreundin von mir, und auf beide habe ich gerade nicht schlecht Lust. Ich kann also nicht sagen, dass mir der Zirkus der Diebe jetzt den Spaß am literarischen Zirkus vermiest hätte – im Gegenteil, es hat mir Lust auf mehr gemacht. Nur eben nicht noch mehr vom Gleichen.