Ich habe dieses Jahr mehr Bücher gelesen als in irgendeinem anderen Jahr der letzten zwei Jahrzehnte, ich kratze an der Fünfzig-Buch-Marke und bin stolz darauf, und das allermeiste, was ich in diesem Jahr gelesen habe, habe ich auch rezensiert – aber hier habe ich jetzt ein Buch, bei dem ich mit der Frage hadere, ob ich ihm mit einer Rezension gerecht werden kann, ob ich es überhaupt rezensieren darf, denn ich bin mir nicht sicher: Ist diese Geschichte wirklich so unglaublich wirr? Oder habe ich sie einfach nur nicht verstanden?
Dabei habe ich mich nach der Ankündigung bei der Locked Library wie nur was auf dieses Buch gefreut. Eine Clockworkpunk-Story mit Zwanzigerjahreflair, das klang wie wirklich genau mein Buch. Und als es dann kam mit seiner wunderschönen Art Deco-Aufmachung, habe ich nicht lang gewartet, wollte nicht erst das Dutzend anderer Bücher, die ich derzeit angebrochen habe, zu Ende lesen, sondern habe mich schnell an die Lektüre gemacht. Ich dachte, das ziemlich groß gedruckte Buch kann ich innerhalb von drei Tagen locker runterlesen – aber so leicht hat es mir Loni Crittenden dann nicht gemacht. Andauernd habe ich zurückblättern müssen, um zu sehen, ob ich irgendetwas wichtiges überlesen oder übersprungen oder sonstwie verpasst hatte, und je weiter ich gekommen bin, desto größer wurde die Verwirrung, bis ich am Ende nicht einmal mehr sagen konnte, wie das Buch denn nun geendet hatte.
Sowas ist mir echt noch nie passiert. Ich halte mich für einen intelligenten, aufmerksamen Leser, und an der Sprache wird es auch nicht gelegen haben, ich lese Englisch flüssig und ohne Probleme und habe sprachlich alles verstanden – nur eben inhaltlich nicht. Und da weiß ich nicht, war das ich, oder war das die Geschichte? The Ancient’s Game verliert sich in zunehmend surrealistischen Elementen, spielt auf zwei Wirklichkeitsebenen und ist dadurch schon eine Herausforderung – aber ich glaube, dass ich zumindest eine Teilschuld für meine Verwirrung beim Buch suchen muss, dem es nicht gelungen ist, dieses Spiel mit den Ebenen plausibel umzusetzen.
Die Prämisse ist wunderschön: Es gibt eine Art Metallmagie, bei der die Wirker Runen in Metalle schnitzen und damit die wunderlichsten Dinge erschaffen, von der kleinen Illusion bis hin zu intelligenden Automatoi und sprechenden Autos. Kellen DuCuivre, die Hauptfigur, bringt ein großes Talent für diese Kunst mit – aber sie ist ihr, die ohne Namen geboren worden ist, verboten. So lernt sie erst einmal im Verborgenen, unterstützt durch ihren Adoptivvater, den Bastler Edgar, bis sie die Chance bekommt, unter der Großmeisterin Mesny zu lernen. Aber weil die Gilde immer nur einen Lehrling pro Jahr erlaubt – nicht pro Meister, sondern gildenweit! – muss sich Kellan einem Wettbewerb stellen, der nur eine:n Sieger:in zulässt. Und dass um sie herum die Welt zu zerbrechen droht, macht das Ganze nicht einfacher …
An keiner Stelle wird plausibel erklärt, warum es diese Einschränkung auf einen Lehrling pro Jahr gibt, aber ich habe mich trotzdem gefreut auf die literarische Umsetzung einer magischen Talent-Castingshow. Solche Serien sind meine Schwäche, egal ob da der nächste große Modedesigner gesucht wird, der nächste Spitzenkoch, Glasbläser, Schreiner, Innenarchitekt … Ich ziehe es mir mit Genuss rein. So hoffte ich auch hier, auf meine Kosten zu kommen. Acht Bewerber:innen treten in der Stadt Riz zum großen Wirkerwettstreit an, nur eine:r wird am Ende gewinnen, und nach und nach scheiden die Teilnehmenden aus, während es spannende Aufgaben zu lösen gibt – zumindest hatte ich mir etwas in der Form erhofft. Tatsächlich geht der Wettbewerb aber nur über drei Runden, und die Aufgaben sehen tendenziell alle so aus: Schnitz, was du willst, Hauptsache, du beeindruckst uns. Da hätte man wirklich mehr, viel mehr, draus machen können. Wenn schon Castingshow, dann richtig.
Dazu kommt, dass die Figuren, namentlich Kellans Konkurrent:innen, blass bleiben. So eine Talentshow lebt von den verschiedenen Persönlichkeiten, ihren persönlichen Stilen, die sich in den gestellten Aufgaben niederschlagen, aber Crittenden gelingt es nicht, ihre Figuren mit Individualität und Leben zu füllen. Noch nicht einmal Kellan kann wirklich überzeugen, ohne dass ich da den Finger drauflegen könnte, woran es liegt – wir erfahren ganz am Anfang, dass sie schon als Kind Dinge auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hat, sie ist stolz und trotzig und bockig, sogar verletzlich, aber irgendwie blieb sie immer auf Distanz zu mir, und ich konnte mit ihr nur schlecht warmwerden. Für die Nebenfiguren gilt das um so mehr. Da ist die unerschütterlich gutgelaunte Taxifahrerin Lou, die sich endlose (und ich meine endlose!) Streitgespräche mit Automatoi Cyn liefert, da ist Axel, bei dem bis zum Ende nicht klar wird, ob er nun ein Love Interest sein soll oder nicht, und da ist die enigmatische Meisterin Mesny – niemand bleibt wirklich hängen, alle wirken schematisch, niemand ist mir wirklich ans Herz gewachsen.
Dazu kommt, dass das Buch echte Probleme mit dem Tempo hat. Wenn sich Lou und Cyn um irgendwelche Kleinigkeiten oder Theorien zoffen, wird das Ganze, das nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt, in ganzem Detail ausgewalzt – nur, damit dann handlungsrelevante Elemente im schnellen Vorlauf abgefrühstückt werden. Eben noch hat Meisterin Mesny Kellan als Schülerin akzeptiert – da steht auch schon die erste Casting-Herausforderung vor der Tür. Immer wieder spult das Buch an Stellen vor, auf die ich gerne noch tiefer eingegangen wäre, immer wieder habe ich das Gefühl, dass etwas fehlt, und ich weiß nie, ob ich da etwas verpasst habe oder ob es einfach nicht ausgearbeitet worden ist.
Erschwert wird das Ganze durch surrealistische Elemente. Zum einen ist die Kunst in der Lage, exquisite Illusionen zu erschaffen, zum anderen bricht nach und nach eine Parallelwelt durch, Kellan findet sich in Traumwelten wieder, und es gelingt mir nicht, das Ganze zu visualisieren. Da liegt, das weiß ich, die Schuld zumindest zum Teil bei mir, meine Vorstellungkraft ist nicht bildbasiert, sondern ich denke in Worten – aber hier reichen die Wörter nicht aus, dass ich mir die Sachen so vorstellen könnte, wie ich das müsste, um die Geschichte zu verstehen. Ganz am Anfang erschafft Kellan ein Kaninchen, das sich in einen Schwarm Glühwürmchen verwandelt und zurück in ein Kaninchen, und es wird nie thematisiert, wo sie diese Idee hergenommen hat, denn das Kaninchen ist etwas altes, mächtiges, das sich durch die ganze Geschichte zieht – immer hetzt Kellan hinter ihm her wie eine verhinderte Alice, stößt auf Spuren und Legenden aus der Vergangheit, die sich immer wieder um Kaninchen, Spinnen und Glühwürmchen drehen, aber statt dass die Geschichte nach und nach an Klarheit gewinnt, wird sie einfach immer und immer wirrer, bis ich wirlkich nicht mehr durchgeblickt habe.
Dann gibt es noch ein Dunkel, das durch die Stadt walzt und eine Spur von Chaos hinterlässt. Menschen verschwinden, was niemals wirklich thematisiert oder aufgelöst wird, und in einem wirklich unüberzeugenden actiongeladenen Showdown verwandlen sich ohne Vorwarnungen gewöhnliche Menschen in Monster und greifen alles, was sich bewegt an. Erst scheint das mit den Verschwundenen zusammenzuhängen, dann erwischt es aber auch beliebige andere Leute, und icz verliere mich beim Lesen in einem einzigen großen »Häh?« Irgendwann habe ich aufgegeben, zurückzublättern, habe einfach weitergelsen, egal ob ich noch verstanden habe, was gerade Sache war, um das Buch hinter mich zu bringen. So rettet Kellan am Ende die Welt, und ich habe echt keine Ahnung, wie sie das angestellt hat.
Auf den letzten Seiten stellt sich dann eine Figur als Schurk:in und Drahtzieher:in hinter dem ganzen Chaos heraus, aber da will sich kein Überaschungsmoment einstellen – ich hatte diese Person seit ihrem ersten Auftritt unter genau diesem Verdacht und habe mich nur bestätigt gefühlt, den Plot vorhergesehen zu haben. Zumindest an der Stelle habe ich das Buch dann auch verstehen können, aber das war nur ein schwacher Trost in der ganzen Wirrheit, die The Ancient’s Game darstellt.
Auch das Setting lässt letztlich zu Wünschen übrig. Das Zwanzigerjahregefühl will einfach nicht überspringen. Ja, da wird überall Jazz gespielt, aber das ist es dann auch schon wieder. Schallplatten sind aus Vinyl, nicht Schelllack. Autos, Radios und Telefone sind allgegenwärtig, nichts Besonderes mehr. Natürlich, es ist eine Welt, in der Magie vieles Technische möglich macht, das in unserer Welt erst nach und nach entwickelt werden musste – aber die Welthaftigkeit wird einfach nicht greifbar. Auch die angekündigten Bezüge zur afrikanischen Diaspora haben sich mir nicht erschlossen. Vielleicht bringe ich da einfach zu wenig Hintergrundwissen mit, aber wenn es nicht im Teaser gestanden hätte, ich hätte da keine Verbindung gezogen. Kellan ist Schwarz, aber es wird nicht mal klar, ob das für alle Menschen in Nanseau gilt oder ob es sie zu einer Außenseiterin macht.
Dabei hätte man aus der Welt, die immer wieder erobert worden ist und ihre eigene Geschichte vergessen hat, viel machen können. Und die Kunst, Runen in Metall zu schnitzen (oder, verbotenerweise, in Fleisch), bringt viel Potenzial mit, um spannende Geschichten zu erzählen. Saber zu viele Fragen bleiben offen, werden angerissen und dann nie wieder aufgegriffen. Was hat es mit der Krankheit Bergmannsfäule auf sich, für die Kellan ganz am Anfang eine Heilung finden will? Sie wird nie wieder erwähnt, die Suche nach der Heilung verpufft im Nichts. Warum sind Teile der Welt versunken? Es spielt letztlich keine Rolle …
Ich habe das Gefühl, dass die Autorin ihren Weltenbau zu breit angelegt hat, aber dann nicht in die Tiefe gegangen ist, und das ist schade. Vielleicht schreibt sie Fortsetzungen zu The Ancient’s Game, vielleicht wird es andere Romane aus Nanseau geben, vielleicht aus anderen Epochen seiner Geschichte – das könnte ich mir durchaus vorstellen, und vielleicht würde ich das auch lesen wollen – wenn mich dieses Buch nicht so dermaßen verwirrt zurückgelassen hätte. Ich will hier eigentlich keine Leseempfehlung aussprechen, zu viel an diesem Buch hat mich einfach nicht überzeugen können – aber ich wäre froh, wenn es mir jemand erklären könnte. Vor allem das große Finale. Das war für mich wirklich jenseits von Gut und Böse. Ich wollte dieses Buch wirklich lieben. Aber ich habe es einfach nicht verstehen können.