Wir haben Ende Dezember, es ist kalt und dunkel draußen, und in meinem Zimmer wird die Heizung nicht richtig warm – die perfekte Grundlage, mich mit einem richtig schön gruseligen Buch ins Bett zu kuscheln. Da kommt mir die monatliche Sendung aus der Locked Library gerade recht: Bücher mit Titeln wie »The Haunting of [hier Name des Hauses einsetzen]« haben es mir nicht erst seit Shirley Jackson angetan und versprechen üblicherweise genau die Art Grusel, die ich gern mag – keinen blutigen Horror, sondern sanftes Grauen, das mir bis in die (gerade wirklich sehr kalten) Zehenspitzen kriecht. Das Ganze auch noch mit einem gutrecherchierten historischen Setting kombiniert, und ich habe genau mein Buch. Und so machte ich mich, auch wenn ich schon so viele angefangene Bücher habe und dieses Jahr noch zwei Bücher fertig lesen muss, an die Lektüre von The Haunting of Moscow House. Wurde ich enttäuscht? Das nicht. Aber gegruselt? Gegruselt wurde ich, trotz sehr vielen Geistern, leider eher nicht.
1921 spielt die Geschichte, in einem Jahr also, in dem ich selbst schon einen historischen Gruselroman angesiedelt hatte und von dem ich dachte, dass ich mit seiner Geschichte vertraut bin – aber wo mein eigener Roman in England und Wales spielte und sich vor allem um die noch spürbaren Nachwehen des Ersten Weltkriegs drehte, spielt The Haunting of Moscow House im nachrevolutionären Russland, gezeichnet von den Spuren des Bürgerkriegs und einer Hungersnot, und die Schwestern Irina und Lili haben erstmal ganz andere Probleme, als dass es bei ihnen im Haus spuken könnte. Die beiden sind Бывшие люди, Ehemalige Leute: Adlige, die mit der Oktoberrevolution Stand und Vermögen verloren haben und von der Tscheka, der Geheimpolizei, drangsaliert werden – und sich doch freuen müssen, überhaupt noch am Leben zu sein.
Schließlich haben viele Adlige, vor allem die Männer, schon in den Revolutionswirren und dem Bürgerkrieg ihre Leben gelassen, und die haben auch am Haus Scherbatsky-Golitieva ihre blutigen Spuren hinterlassen: Cousin Andrei ist im Bürgerkrieg gefallen, wie auch Irinas Verlobter Georgij. Onkel Pascha wurde bei einem Überfall der Tscheka auf das Familienanwesen erschossen. Vater deportiert und am Typhus gestorben, Mutter an gebrochenem Herzen, und Onkel Alexei starb im Gefängnis – und so sind außer Irina und Lili nur noch Großmutter und Tante Marie am Leben, dazu die Kinder Natascha und Serjoscha – wobei letzterer, was niemand wissen darf, nicht Irinas Cousin ist, sondern ihr Sohn.
Ganz schlecht hat die Familie es nicht: Anders als viele Moskauer, die nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf haben, leben sie noch in ihrem prachtvollen prachtvollen Stadthaus, das, um es vom Stammsitz in St. Petersburg zu unterscheiden, Moskau Haus genannt wird. Und auch wenn sie als Ehemalige keine Arbeit finden und nichts zu essen haben, gibt es noch noch viele Familienschätze, die auf dem Basar zu Geld gemacht werden könnten – wenn da draußen ein Interesse an bourgoisen Schätzen bestünde und nicht zu viele andere Leute auch primär an den knappen Nahrungsmitteln bestünde. Erst, als sich eine Einheit Bolschewiken im Haus einquartiert und die Scherbatsky-Golitievas auf den Dachboden ausweichen müssen, zeichnet sich ab, dass etwas umgeht in Moskau Haus. Die Toten der Familie kehren zurück, es gibt unerklärliche Todesfälle, und plötzlich haben die Schwestern ganz andere Sorgen als die Frage, was sie am nächsten Tag essen sollen …
Autorin Gilmore weiß, worüber sie schreibt. Ihre historische Epoche hat sie akribisch recherchiert, und da sie selbst gebürtige Russin ist – in Amerika aufgewachsen und mit einem Amerikaner verheiratet – kennt sie Land, Leute und Bräuche. Ihr Buch ist dicht und atmosphärisch und fühlt sich sehr authentisch an, und ich verzeihe kleine Ausrutscher, wenn ein Amerikaner die Schwestern mit »Ms.« anredet, was in der damaligen Zeit völlig ungebräuchlich war und im Buch auch nur einmal passiert, als hätte die Lektorin einmal nicht aufgepasst. Vielleicht hätte dem Buch ein Index für die verwendeten russischen Begriffe gutgetan – so wie ich ihn auch bei Hammajang Luck für die hawaiianischen Wörter vermisst habe – aber da ich ein bisschen Russisch beherrsche, war das hier für mich das geringere Problem.
Ich weiß, dass Zakuski Vorspeisen sind, und die meisten anderen russischen Begriffe werden zumindest einmal im Text übersetzt. Trotzdem empfand ich es als etwas störend, wenn in einem auf Englisch geschriebenen Buch ein Russe, der mit anderen Russen Russisch spricht, plötzlich einzelne russiche Begriffe verwendet – als ob der Rest des Dialogs in einer anderen Sprache stattgefunden hätte und nur diese drei Wörter auf Russisch wären. Es ist auch inkonsequent, für das Wort »Genosse« durchgehend sein englisches Äquivalent »Comrade« zu verwenden – nur um dann mittendrin die russische Bezeichnung »Towarischtsch« zu benutzen.
Dabei ist die Dialogsprache in dem Buch herausfordernd genug, weil die Figuren untereinander in drei verschiedenen Sprachen reden: Die Schwestern mit ihrer Großmutter Französisch, wie unter russischen Adligen üblich, mit den Bolschewiken auf Russisch, und mit den Amerikanern – die mit der Hilfsorganisation ARA, der American Relief Association, vor Ort sind, um die Not der hungernden Kinder zu lindern und bei denen die Schwestern Arbeit finden – auf Englisch. Dabei wird das Franzöische dann auch auf Französisch, mit angeschlossener Übersetzung in Kursivschrift, wiedergegeben, Russisch und Englisch auf Englisch.
Aber wenn ich mich schon an solchen Kleinigkeiten hochziehe, heißt das, ich meckere auf hohem Niveau. Das Buch hat mir gut gefallen, die Figuren sind interessant gestaltet, auch wenn die Bolschewiken vielleicht ein bisschen zu stereotyp negativ gezeichnet sind und im Gegenzug die Amerikaner zu positiv: Gilmore geht in ihrem Nachwort auf Freiheiten ein, die sie sich herausgenommen hat, lässt bei der ARA Schwarze und Frauen gleichberechtigt mitarbeiten, was in der Zeit noch lange nicht der Fall war, und der schurkische Bolschewik Felix ist wirklich ein stahläugiges wandelndes Klischee – aber die Hauptfiguren sind fein ausgearbeitet, innerlich zerrissen, nicht immer ehrlich mit einander und sich selbst, und das hat das Buch sehr interessant gemacht.
Nur die Geistergeschichte – also das, wofür ich das Buch überhaupt lesen wollte – hat mich nicht im gleichen Maße abgeholt wie die historischen Aspekte der Geschichte. Schon als sich die ersten Geistererscheinungen abzeichnen, hatte ich das Gefühl, dass die Eskalation zu schnell voranschritt: Das Buch ist mit über 350 Seiten nicht dünn, und wenn auf die Geister Seite 50 schon sichtbar werden, was soll dann im Rest des Buches mit ihnen passieren? Um mich zu gruseln, brauche ich keine Jumpscares, sondern langsam voranschreitende Ungewissheit, die Angst vor dem, was nicht zu sehen ist. In The Haunting of Moscow House fühle ich mich über weite Strecken wie in einem Gruselfilm ohne Musik: Die Bilder sind da, aber die Atmosphäre, das, was den eigentlichen Schauer erzeugt, fehlt gänzlich.
So waren die für mich gruseligsten Momente im Buch Stellen, an denen gar nichts zu sehen ist, in denen Spannnug und Grusel erzeugt wird durch Kerzen, die niemand angezündet hat, oder einen auf dem Bett bereitliegenden Anzug – leider sind diese Stellen selten, treten zu oft die immer körperlicher werdenden Geister in Erscheinung und nutzen sich damit ab, bis man sie schulternzuckend als gegeben hinnimmt. Das ist schade, denn aus der Idee hätte man sicher etwas viel gruseligeres machen können. So aber wird selbst die immer wieder auftauchende Puppe der am Scharlach verstorbenen kleinen Xenia zu einem abgedroschenen Requisit, das selbst dann keinen Schrecken mehr erzeugen kann, wenn der kleine Serjoscha damit unschuldig spielt und von seiner Freundin im goldenen Kleid erzählt.
Zu lebhaft beschrieben schimmelt und modert das Haus vor sich hin, wellen sich schwarzfleckig die Tapeten und kriechen Horden von Kakerlaken und Tausendfüßlern über die Wände – auch das hätte sich langsamer, weniger plakativ sicherlich atmosphärischer gestalten können. Es ist auch irgendwie nicht logisch, dass nur die Toten der letzten drei, vier Jahre wiederaufstehen, wenn Moskau Haus auf eine lange Geschichte zurückblickt und sicher viele Generationen an Scherbatskys und Golitievas dort gelebt haben und gestorben sind. Hier will ich nicht spoilern, aber derjenige, der diese Geister wieder aufstehen lässt, scheint aus dem Vollen zu schöpfen und hätte ruhig auch den einen oder anderen Toten des neunzehnten Jahrhundert oder noch früher mitbringen können.
Hätte Gilmore dann die Geistergeschichte ganz weglassen und sich auf die historischen Aspekte des Buches konzentrieren sollen? Sicherlich nicht. Ohne die Geister würde das ganze Thema des Buches – eine Welt, zerrissen zwischen der alten Zeit und der neuen – nicht funktionieren, wäre die Sehnsucht der älteren Generationen der Ehemaligen nach einer Rückkehr zur Vergangenheit weniger greifbar. Denn das ist die Lektion, die Irina und Lili vor ihren Älteren verstanden haben: Dass sie geradeaus schauen müssen, dass die Vergangenheit vergangen ist und sich nicht zurückbringen lässt, erst recht nicht über das Grab hinaus. Vielleicht spielte Okkultismus in dem Buch eine zu große Rolle für mich, aber so war nun einmal die Zeit, damals im zaristischen Russland, als Rasputin letztlich nur einer von vielen war und eine Faszination für dunkle Mächte regelrecht salonfähig war.
Woran das Buch für mich auch ein bisschen hätte sparen können, ist der Sex. Ich verstehe, dass sowohl Irina als auch Lili ein Bedürfnis nach Liebe haben und durchaus auch nach Sex, aber den haben sie mit ihren jeweiligen Partnern einfach ein bisschen zu oft, um mir persönlich Spaß zu machen, und eine Szene, in der es ausgerechnet auf einem Friedhof zur Sache geht, fand ich ein bisschen unangenehm zu lesen und fand die dort beschriebene Pietätlosigkeit auch ziemlich unpassend für die Epoche. Durchaus nett fand ich hingegen, dass es zumindest in Tagebuch-Rückblenden auch eine queere Liebesgeschichte gibt, welche die Schwestern angesichts der Tatsache, dass die Welt sowieso aus den Fugen ist, auch leichten Herzens akzeptieren können.
Nur auf den letzten Metern hätte das Buch mich dann beinahe verloren. Da gibt es einen actionlastigen Showdown, der unnötig lang ist und sich, statt ein letztes Mal den Grusel auf die Sptize zu treiben, in einem Effektfeuerwerk verliert. Da zeichnet sich der Ausgang früh ab, wird dann aus wechselnder Perspektive ausgewalzt, und hätte, wenn überhaupt, gerne halb so lang sein können. Das hat das Buch für mich dann ein bisschen runtergezogen – es fühlte sich an, als würde eine Geschichte, die nach leiseren Tönen verlangt, mit dem Holzhammer aufgelöst. Dadurch, dass die Geister zu früh zu greifbar geworden sind, musste am Schluss dann nochmal eine zu große Schippe draufgelegt werden, und auch wenn mich der Ausklang der Geschichte dann wieder mit dem Buch versöhnt hat, wäre mir ein anderes, weniger blutiges Finale doch lieber gewesen.
Aber wer seine Geistergeschichten ein bisschen plakativer mag, wer Spaß hat an wirklich gut recherchierten historischen Stoffen und interessanten Figuren, dem empfehle ich The Haunting of Moscow House gerne weiter. Für mich hat es die Interesse an dieser Epoche des Umbruchs wieder geweckt, und ich denke, ich werde mich doch noch einmal daran machen, Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows Zwölf Stühle, das ich vor ein paar Jahren nicht zu Ende gebracht habe, zu lesen – auch wenn ich auf das Russland der Gegenwart nicht gut zu sprechen bin und mir die Lust, die Sprache zu lernen, ziemlich vergangen ist. Und vielleicht wende ich mich im komenden Jahr auch wieder meinen eigenen Zwanzigerjahre-Geistergeschichten zu. Dunkel ist es draußen schließlich noch immer. Und drinnen kalt leider auch.