Ich weiß gar nicht mehr, wie dieses Buch auf meiner Liste gelandet ist. Vielleicht wurde es mir bei Goodreads vorgeschlagen, vielleicht bin ich anderweitig darüber gestolpert, aber irgendwann vor gut dreizehn Jahren bin ich auf Karen Russells Swamplandia! gestoßen. Die Geschichte einer Familie, die in den Sümpfen Floridas vor Publikum mit Alligatoren ringt und schwimmt klang amüsant und schräg, und die Tatsache, dass der Freund der älteren Tochter vielleicht ein Geist ist, ließ mich auf phantastische Elemente hoffen – kurzum, es passte genau in mein Beuteschema außergewöhnlicher Bücher, landete erst auf meinem Wunschzettel und dann unterm Weihnachtsbaum, und dann im Regal, und da blieb es dann für das nächstes Dutzend Jahre.
Mehrmals unternahm ich in der Zeit Versuche, das Buch zu lesen, aber ich kam nicht richtig rein und gab nach wenigen Seiten wieder auf. In der Zwischenzeit ging mir das Lesen dann ganz verloren, der Stapel ungelesener Bücher wuchs und wuchs, und als ich dann im letzten Jahr wieder mit dem Lesen anfing, war Swamplandia! ziemlich weit nach hinten auf meiner Leseliste gewandert. Aber jetzt, als ich mein Belletristik-Regal auf- und umräumte, um endlich Platz über die in den letzten Jahren hinzugekommenen Bücher zu schaffen, bekam ich Lust, wieder mal etwas anderes zu lesen als immer nur Fantasy, und ich nahm mir Swamplandia! vor, um ein bisschen Abwechlung reinzubringen und das Buch endlich mal zu Ende zu lesen.
Und das habe ich auch getan, mit Unterbrechung – ich habe The Cut Direct dazwischgeschoben – und mir am Ende tatsächlich gewünscht, lieber etwas anderes gelesen zu haben. Daher gibt es an dieser Stelle schon die Warnung, dass diese Rezension deutliche Spoiler enthält, was ich sonst doch zu vermeiden versuche. Dabei hat mir zu Anfang der Geschichte das Buch noch gut gefallen. Die Sprache war bildreich und poetisch, die Figuren interessant gezeichnet, die Handlung zwar nicht entsetzlich spannend, aber doch so, dass ich weiterlesen wollte. Und dann, im hinteren Viertel, passierte etwas, das dieses Buch für mich komplett runtergezogen hat.
Swamplandia!, immer mit Ausrufezeichen, ist der Name einer Attraktion tief in den Sümpfen Floridas. Dort, fernab vom Festland, kann man den Angehörigen der Familie Bigtree bei ihrer Alligatorshow zusehen. Star der Attraktion ist die Mutter, Hilola Bigtree, die vor staunendem Publikum bei Sternlicht durch ein Becken voller hungriger Bestien taucht. Aber auch die Kinder – der siebzehnjährige Kiwi und die Töchter, die sechzehnjährige Osceola und vor allem die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Ava, machen aktiv mit. Sie bekommen Hausunterricht, verlassen ihre Insel niemals und werden vom Vater, Chief Bigtree, als indigene Inselbewohner dargestellt – und müssen, auch wenn sie keinen Tropfen Seminole oder Miccosukee-Blut haben, in traditionellen Lederkleidern und mit Federkopfschmuck posieren, wobei die allzu blasshäutige Osceola dann auch mal dunkel angemalt wird.
Es sind die späten Achtziger/frühen Neunzigerjahre, als Cultural Appropriation noch kein Schlagwort darstellt, und niemand findet viel dabei, dass der »Chief« seine Familie als »ihre eigenen Indianer« ausgibt. Dass die Familie dabei nicht einmal wirklich Bigtree heißt, sondern Granpa Sawtooth ursprünglich mal Ernerst Schedrach war und die legendäre Alligatorenringer Hilola eube geborene Owens, spielt keine Rolle – die Bigtrees leben eine Phantasie, die vom Publikum nur zu gern angenommen wird. Doch dann bricht das Unheil über die Alligatorenfarm herein: Hilola stirbt an aggressivem Unterleibskrebs, und am Festland macht eine neue Attraktion auf, der Unterwelts-thematisierte Vergnügungspark World of Darkness, und mit Swamplandia! geht es bergab.
Die Touristen bleiben aus und mit ihnen das Geld. Die Bigtrees, die den Tod Hilolas noch lang nicht verarbeitet haben, müssen irgendwie mit der neuen Situation zurechtkommen. Granpa Sawtooth, der Zeichen von Demenz entwickelt hat, landet in einem schwimmenden Altersheim, Kiwi flieht nach einem Streit mit dem Chief ans Festland, um dort Geld für die Rettung von Swamplandia! zu machen, und Oscelola gerät an ein Buch über Spiritismus und versucht, zusammen mit Ava über Ouija-Brett Kontakt zur verstorbenen Mutter aufzunehmen. Doch bald schon gehen Osceolas okkulte Experimente noch weiter: Sie durchsucht die Zeitung nach Nachrufen auf junge Männer, lässt sich von deren beschworenen Geistern in Besitz nehmen und betrachtet das als ihre Form von Dating, was Ava mit einem Wechsel aus Faszination und Besorgnids verfolgt.
Die Situation eskaliert, als auch der Vater ans Festland geht, die Mädchen allein zurückbleiben und Osceola nach einer heftigen Romanze mit dem seit über fünfzig Jahren toten Louis durchbrennt, um ihn in der Unterwelt – deren Zugung nicht weit entfernt in den Sümpfen liegt – zu heiraten. Zusammen mit dem Bird Man, einem Sonderling, der die Geier von den Behausungen im Sumpf fernhält, macht sich Ava auf die Suche nach ihrer Schwester, selbst wenn sie dafür leibhaftig in die Unterwelt hinabsteigen muss …
Und genau das hätte ich gern gelesen: Eine abenteuerliche, surrealistische Reise in die Unterwelt mit vielen Stops bei schrägen Sumpfbewohnern entlang der Strecke, ein Roadmovie der besonderen Art. Aber das habe ich nicht bekommen. Vielleicht, wenn Ava allein aufgebrochen wäre, hätte sich diese Reise so gestalten können – sie ist eine spannende Figur, manchmal naiv, manchmal weise, und ihre Erzählstimme hat mir gut gefallen. Ich lese ja durchaus gerne Erwachsenenbücher mit einem Kind als Hauptfigur, obwohl ich aus Autorenperspektive da von Verlagen oft ein »Wenn die Hauptfigur ein Kind ist, gehört das ins Kinderbuchsortiment!« gehört habe – vielleicht hat da ein aus dem englischsprachigen Bereich eingkauftes Buch es leichter, denn Swamplandia! ist auch auf Deutsch erschienen und hat es da zu einer Empfehlung von Christine Westermann gebracht, die das Buch »Witzig, spannend und verrückt« genannt hat.
Aber ich weiß nicht, welches Buch Frau Westermann da gelesen hat, denn Swamplandia! ist alles, nur nicht witzig. Alles andere als witzig. Ich habe lange kein derart deprimierendes, trübsinniges Buch gelesen, die Figuren bestimmt von Trauer und finanziellen Sorgen. Ja, es gibt ein paar schräge Momente – der Vergnüngspark World of Darkness, in dem Avas Bruder Kiwi Arbeit findet, könnte in seiner Konzeption in die aus Kiersten Whites Sinister Summer-Bücher einreihen – aber vor allem ist es trübsinnig. Selbst in der World of Darkness gibt es nichts zu lachen, wenn Kiwi die schäbige Unterkunft, die Uniform und selbst das Vorhängeschloss für seinen Spind von dem kärglichen Lohn abgezogen werden und er am Ende des Monats seinem Arbeitgeber mehr Geld schuldet, als er verdient hat.
In Kiwis Perspektive, diesmal in der dritten Person, wird die Geschichte ab einem gewissen Punkt im Wechsel mit Avas Kapiteln erzählt, aber diese Zäsur hat dem Buch, meinem Empfinden nach, nicht gut getan – Kiwis Geschichte wirkt distanziert, scheint den eigenen Protagonisten nicht für voll zu nehmen, und hat mich nicht überzeugen können. Meine eigentlichen Probleme mit dem Buch liegen dann aber doch primär bei Avas Geschichte, bei ihrer Reise in die Unterwelt, und vor allem bei ihrem Begleiter, dem Bird Man. Der ist vielleicht eine enigmatische, aber von Anfang an sinistre Figur, ein namenloser Sumpfnomade, für den Ava schnell eine Faszination entwickelt, die sich zu keinem Zeitpunkt gut oder gesund anfühlt.
Und so komme ich nun zu der Sache mit dem Spoiler. Hätte ich im Vorfeld gewusst, dass die Geschichte, die ich als schräg und witzig erwartet hatte, eine solche Wendung nehmen würde, ich hätte einen Bogen um das Buch gemacht, und ich möchte nicht, dass irgendjemand, durch meine Rezension neugierig geworden, sich Swamplandia! vornimmt und in die gleiche Situation gerät wie ich. Denn die Beziehung zwischen Ava und dem Birdman schlägt von Faszination in Entsetzen um, als er sie – nach drei Tagen Reise am Ziel angekommen, wo sich die vermeintliche Unterwelt als ganz gewöhnliches und unmystisches Stück Sumpf entpuppt – vergewaltigt. Und an der Stelle blendet das Buch nicht ab, wie in der Szene, als Kiwi in einvernehmlichem betrunkenen Sex seine Jungfräulichkeit verliert – sondern wir erleben die entsprechende Szene in Gänze. Und die Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens ist nicht das, was ich lesen will.
Ja, die Szene verzichtet auf anatomische Details, sie ist nicht pornographisch oder voyeuristisch gestaltet – Ava nimmt sie distanziert, beinahe erstaunt, wahr – und doch war für mich da eine Grenze überschritten. Nicht, dass Bücher keinen Kindesmissbrauch thematisieren dürfen, aber die Art, wie es hier gestaltet worden ist, hat sich so falsch angefühlt wie die ganze Beziehung zwischen dem einsamen Mädchen und dem erwachsenen Mann unbestimmten Alters. Und wenn man sich wünscht, dass der zumindest irgendeiner Form von Strafe oder Gerichtsbarkeit zugeführt wird, hat man sich geirrt: Ava beschließt, niemandem von der Episode zu erzählen, zieht sogar in Betracht, dass das Ganze ja ihre eigene Schuld ist, und das Beste, was passiert, ist, dass sie vor ihm weglaufen kann. Sicherlich ist das psychologisch plausibel – aber nichts, was in ein Buch gehört, das man dem Publikum als liebenswert schräg und witzig verkaufen will.
Da fällt es für mich kaum noch ins Gewicht, dass das Buch oft auch noch unlogisch ist. Da sitzend die Schwestern nach Tagen ohne Vater allein im Haus und haben nichts mehr zu essen bis auf ein paar Snacks und Süßigkeiten – nur, damit als nächstes der Bird Man sich im Bigtree’schen Haus mit Vorräten eindeckt und von dem ehemaligen Mangel keine Spur mehr zu finden ist. Oder wenn man sich fragen muss, warum der Bird Man einen dreitägigen Roadtrip quer durch den Sumpf mit Ava macht, wenn er sie schon bei ihrer ersten Begegnung, ohne andere Erwachsene oder Hilfe weit und breit, direkt an Ort und Stelle hätte missbrauchen können.
Da wirkt vieles einfach unglaubwürdig und aufgesetzt, konstruiert um der Konstruktion Willen, und das kann auch poetische Sprache dann nicht mehr ausgleichen. Und so bleibt am Ende von einem langen Buch – Russell hat davor nur Kurzgeschichten veröffentlicht – nicht viel übrig, das mir gefallen hat. Vielleicht, dass bis zum Ende offengelassen wird, ob Osceolas geisterhafter Verlobter wirklich ist oder nur die Einbildung eines psychotischen Verstands. Aber unterm Strich bleibt wirklich wenig Positives über das Buch zu sagen. Vielleicht hätte ein anderes Ende noch ein bisschen was rausreißen können – aber so bricht das Buch nur abrupt ab, dass ich irritiert weitergeblättert habe in der Erwartung, da müsse doch noch irgendwas kommen. Tut es aber nicht.
Ich hatte große Erwartungen an dieses Buch – zusätzlich aufgeladen durch die Tatsache, dass ich es dreizehn Jahre lang endlich lesen wollte – und bin nicht auf meine Kosten gekommen. Es war nicht, was ich erwartet hatte, es war auch sonst kein überzeugendes Buch, und ich kann es nicht reinen Gewissens weiterempfehlen. Es gibt wirklich witzige Bücher. Es gibt deprimierende Bücher, die einem das Herz rausreißen mit der Wucht ihrer Worte. Swamplandia! ist nichts davon. Gut gestartet, hat es mich zu schnell verloren, und ich wünschte, ich hätte die Zeit, die ich mit diesem Buch verbracht habe, stattdessen in eine andere Lektüre investiert. Ich habe so viele Bücher, die schon lang darauf warten, gelesen zu werden. Nächstes Mal lese ich eines von denen.