Genau ein Jahr ist es her, dass ich meine Liebe zum Lesen wiederentdeckt habe, und das Jahr war ein voller Erfolg. Genau fünfzig Bücher habe ich 2024 gelesen, und auch wenn mir nicht alle gefallen haben, war doch so viel Schönes dabei, dass es mein Leben bereichert hat. Genug, um auch 2025 daran anknüpfen zu wollen. Am liebsten würde ich noch ein paar mehr Bücher schaffen als im letzten Jahr – immerhin platzt das Haus immer noch vor Büchern aus allen Nähten, ist meine Wunschliste ungebrochen lang, und kommen weiterhin jeden Monat tolle neue Titel auf den Markt, so dass ich selbst mit einem Buch pro Woche nicht hinterherkommen werde. Das macht mir unnötigen Stress, aber ich will mich davon nicht zu sehr beeinflussen lassen. Und so bin ich zum 1. Januar mit einer neuen Lektüre ins neue Jahr gestartet, und einen besseren Start hätte ich mir wohl nicht wünschen können.
Nachdem ich Hammajang Luck gelesen hatte, war ich wieder ganz im Heist-Fieber. Und wie es so kommt, wartete schon der nächste Roman über einen raffinierten Raubzug auf mich, ebenfalls aus der Illumicrate-Box: Im Oktober hatte sie mir Kate Dylans Until We Shatter ins Haus gespült – aber wo Hammajang Luck in einer Cyberpunk-Zukunft spielt, hat Until We Shatter ein Fantasy-Setting, und das Team für den Heist hat nicht die üblicher Kombination aus Hacker, Schläger, Schwindler, Dieb und Mastermind, sondern eine Gruppe aus unterschiedlich magisch begabten Zauberwirkern, die sich nicht durch die Gedärme einer Raumstation arbeiten, sondern durch ein Schattenreich, in dem jeder Fehler sie in tausend Scherben zersplittern lassen kann. Beide Bücher haben gemein, dass sie mir, aus unterschiedlichen Gründen, wirklich gut gefallen haben.
Die Einbrecherin Cemmy – bei der ich mich das ganze Buch über gefragt habe, ob sie nun wie Kemmy oder wie Semmy gesprochen wird – lebt in der gespaltenen Stadt Isitar und darf sich auf keiner der beiden Seiten blicken lassen. Die Kirche will ihren Tod, weil sie Magie hat, und zieht damit ausnahmsweise mal an einem Strang mit dem sonst verfeindeten Rat der Töne (ich dachte erst, »Shades» würden so viel wie Schatten bedeuten, aber es bezieht sich tatsächlich auf Farbtöne), die Cemmy als Halbblut – Mutter ist ein Shade, Vater war ein Typic, ein magisch unbegabter Mensch – genausogern tot sehen würden. Diese Halb-Töne, im Englischen als »Hue« bezeichnet, haben nicht die überbordene Macht ihrer magischen Elternteile, aber im Grau, der die farbige Welt umschließende Schattenwelt, verfügen sie über eigene, durchaus nützliche Fähigkeiten.
Nur können sie im Grau nicht einfach so bestehen. Sie brauchen immer ein Dazwischen, an dem sie sich festhalten können – im Kleinen: Zwischen Stuhl und Schreibtisch, oder im Großen: Zwischen Himmel und Erde, oder im Metaphorischen: Zwischen Gut und Böse: Nach und nach lernt Cemmy, sich hochzuarbeiten, es länger und leichter im Grau auszuhalten, wo sie sich zu Anfang des Buches kaum drei Sekunden aufzuhalten traut. sie ist von Angst und Schuldgefühlen belastet: Ein Jahr vor Beginn der Handlung hat sie bei einem Raubzug im Grau versagt, ihre Spießgesellin Magdalena zu beschützen, und damit deren Tod durch Zersplittern verursacht – etwas, das sie gegenüber ihren Freunden und nicht einmal ihrer Partnerin Novi eingesthehen mochte, worauf die ihr die Liebe aufgekündigt hat.
Freunde sind sie aber trotzdem geblieben, und so beginnt Cemmy die Geschichte mit einem Kreis Wahlverwandten von befreundeten Hues, unter denen sie einfach sie selbst sein kann, und mit ihrer kranken Mutter, der es am liebsten wäre, Cemmy würde ihre Magie völlig unterdrücken, damit sie nicht aufgespürt werden können. Schließlich hat der Rat der Töne Cemmys Vater auf dem Gewissen, und an den erinnert jetzt nur noch ein Diamantring, den Cemmy laut ihrer Mutter niemals ablegen darf, auch wenn er für die völllig verarmten Beiden den Gegenwert mehrerer Monate Miete und kostbarer Medizin für Mutters magisches Leiden bieten würde. Cemmy versucht, sie mit Diebstählen und Einbrüchen über Wasser zu halten, lässt sich zu einem Beutezug im Haus des kirchlich bestellten Gouverneurs überreden – und tappt in eine Falle, die nicht nur sie, sondern auch ihre Freunde in Gewalt des Voll-Tons Savian bringt.
Der ist nicht nur ein Widerling, wie er im Buche steht, und zwingt sie zu einem Heist, den nur Halb-Töne ausführen können – er drückt ihnen auch Chase aufs Auge, einen arroganten, Savian offenbar treu ergebenen Hue mit der mächtigen Gabe, anderen ihre magischen Fähigkeiten zu stehlen. Aber natürlich steckt mehr dahinter, verfolgt Chase eigene Ziele und verfolgt, selbst wenn er Cemmy mit der Zeit näherkommt, Ziele, die nur er selbst kennt. Nach und nach stellt sich heraus, was wirklich auf dem Spiel steht und wie viel davon abhängt, dass dieser Heist glückt …
Für einen erfolgreichen Heist braucht man ein gut eingespieltes Team – aber in diesem Buch sind die unfreiwilligen Gefährten ziemlich dysfunktional. Da ist auf der einen Seite das Misstrauen gegen Chase, auf der anderen Seite Cemmys Geheimnis, wo es um Magdalenas Tod geht, und auch wenn die Zusammenarbeit klappt, wenn es drauf ankommt, werden Cemmys Loyalitäten ständig auf die Probe gestellt. Auf welcher Seite steht sie – will sie Chase jetzt hintergehen, um am Ende Savian das Handwerk legen zu können, oder ist er ihr engster Verbündeter?
Die Figuren haben mir gut gefallen – zum Teil sogar mehr, als mir selbst lieb war. Ich mochte Chase, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass er mit genau der richtigen Mischung aus Arroganz und Verletzlichkeit auf Sympathie getrimmt war. Aber auch wenn er sich über weite Strecken wie ein Arsch verhält, war er doch genau die Art von Arsch, die ich in Büchern interessant finde. Trotzdem habe ich bis zum Ende gehofft, dass er und Cemmy sich nicht kriegen – denn da gibt es ja immer noch ihre Beziehung zu Novi, die über Jahre gewachsen ist, durch Cemmys Geheimnis zerbrochen, aber immer noch von so viel tiefer Zuneigung geprägt, dass ich den beiden eine zweite Chance mehr als gegönnt hätte.
Auch Cemmy ist nicht immer sympathisch, trifft falsche Entscheidungen, lügt, um die eigene Haut zu retten, und ist damit eine erfreulich gut interessante Figur mit Ecken und Kanten und eine Abwechslung zu den doch oft austauschbaren Fantasy-Heroinen, mit denen ich im letzten Jahr zu tun hatte. Oft genug hätte ich sie an die Wand klatschen mögen, aber für mich müssen Hauptfiguren nicht sympathisch sein, um ihren Werdegang verfolgen zu wollen. Und ihr von Schuldgefühlten und Ängsten bestimmtes Verhalten fand ich plausibel, nachvollziehbar und rund.
Vieles hat Until We Shatter für mich richtig gemacht. Da ist die neu zur Gruppe gestoßene Lyria, die mit den Schatten sprechen kann, aber gehörlos ist und mit der Gruppe in Gebärdensprache kommuniziert. Weil sie selbst die Gebärden nicht beherrscht – nur Novi kennt die und muss für die Gefährten dolmetschen – bestellt Cemmy bei Chase einen Zauber: Aber nicht mit dem Ziel, Lyrias Behinderung mit einem Fingerschnipsen zu heilen, sondern Cemmy und die anderen selbst die Gebärdensprache lernen zu lassen – was Cemmy erst überfordert, weil über die reinen Zeichen hinaus eben auch eine eigene Grammatik damit verbunden ist, eine eigenständige Sprache. Das fand ich eine geschickte Lösung, überzeugender als das in Hollow Earth gelöst war, wo die Zwillinge im buchstäblich Handumdrehen ganz ohne magische Unterstützung flüssig in Gebärdensprache werden.
Auch wenn ich mich immer reinlesen muss, wenn ein Buch in der ersten Person Präsens geschrieben ist und das nicht meine liebste Erzählperspektive und -Zeit darstellt, bin ich in Until We Shatter gut reingekommen und fand das Buch fesselnd geschrieben. Ein bisschen viel Raum wird Cemmys inneren Monologen eingeräumt, aber das fand ich nicht entsetzlich störend – die Gedankengänge waren schlüssig, interessant und lenkten nicht zu sehr von der Handlung ab. Ich hatte wirklich viel Spaß an der Lektüre und fand das Buch spannend – und das, obwohl ich entscheidende Elemente der Geschichte doch sehr vorhersehbar fand.
So läuft das Buch auf einen Knalleffekt hinaus, eine vermeintlich überraschende Wendung – die ich schon sehr früh im Buch geahnt habe und auf die es wirklich sehr viele Hinweise gibt. Vielleicht bin ich für so etwas besonders empfänglich, weil ich mich immer frage, wie ich etwas selbst als Autor angehen würde. Ich wäre hier gern selbst überrascht worden, aber durch die vielen oft nur ganz beiläufigen Hinweise kommt der Twist zumindest nicht unfair daher, und wer wie ich gerne miträtselt, freut sich vielleicht über die Bestätigung, den Plot erfolgreich geknackt zu haben.
Dem eigentlichen Heist wird für mich ein bisschen wenig Zeit eingeräumt. Es gibt viel Vorbereitung, aber die besteht vor allem in Versuchen, immer komplexere Zwischenräume halten zu können, und nur zweitrangig in Interaktion mit Dritten. Das war bei Hammajang Luck, wo dem Heist ein großangelegter Schwindel vorausging, besser gelöst – in Until We Shatter agiert Cemmy über weite Strecken vor allem mit Chase, und eines der Teammitglieder hat so einen geringen Anteil am Heist, dass ich fest damit gerechent habe, dass es ums Leben kommen würde, um das Zersplittern einmal am lebeden Objekt zu demonstrieren. Aber ganz so billig ist das Buch dann doch nicht, und nicht alles, was ich mir beim Lesen zusammengereimt habe, tritt auch genauso ein.
Immer wieder habe ich mich beim Lesen an ein Gedicht von T.S. Eliot denken müssen: The Hollow Men, in dem es heißt »Between the idea / And the reality / Between the motion / And the act / Falls the Shadow« – und ich frage mich, ob Dylan die Kombination von Schatten und Zwischenräumen nicht wirklich genau aus diesem sehr bekannten Werk entlehnt hat. In ihren Vor- und Nachwort geht sie nicht darauf ein, aber es war amüsant zu lesen, wie sich die Geschichte aus einem Buch über die Zahnfee, über eine in New York angesiedelte Urban Fantasy Story, hin zu diesem phanstastischen Setting entwickelt hat. Gerade den weltenbau fand ich sehr spannend, die farblich kodierten Magier und ihre splittergefährdeten Nachkommen brachten etwas Neues mit, und dadurch, dass die ganze Geschichte in einer einzigen Stadt spielt, war sie sehr dicht.
Ich hätte mich über einen Stadtplan gefreut, aber man kann nicht alles bekommen, was man sich wünscht – das hübsch aufgemachte Buch mit Farbschnitt hat als Spiegel Illustrationen, die ich jetzt nicht so schön fand, aber das ist wirklich Meckern auf hohem Niveau. Und auch wenn ich den Schluss ein bisschen überstürtzt fand, zu viel Wichtigtes am Ende zusammengefasst nacherzählt wird, war ich unterm Strich von Until We Shatter doch ziemlich begeistert. Was für ein gelungener Start in mein neues Lesejahr! Das war direkt zum Beginn ein Highlight, von dem ich nur hoffe, dass es nicht das einzige bleiben wird. So kann das weitergehen! Ein spannendes, gut geschriebenes Buch voller interessanter Figuren – ich hatte meinen Spaß daran und gebe das auch gerne so weiter. Und so beginnt 2025 für mich mit einer dicken »Lies das!«-Empfehlung.