Manchmal muss man viel Anlauf nehmen, nur um ein einziges Buch zu lesen. In meinem Fall ist es das Buch Six of Crows von Leigh Bardugo, das ich 2016 zum Geburtstag bekommen habe, postenwendend angefangen zu lesen – nur, um dann festzustellen, dass es sich um die zweite Geschichte handelt, die in dieser Welt angesiedelt ist, und dass ich, um das Ganze wirklich genießen zu können, erst einmal die davor angesiedelte Grisha-Trilogie lesen sollte. Flugs kaufte ich mir alle drei Bände, fing an zu lesen, aber es wollte mich nicht so recht packen, es sah aus wie viel, viel Arbeit, dafür, dass ich ja eigentlich ein ganz anderes Buch lesen wollte, und so kam ich die ersten fünfzig Seiten von Shadow and Bone nicht hinaus.
Letztes Jahr wollte ich mich dann endlich dransetzen – allein, das Buch war nirgends aufzufinden, im Regal klaffte eine Lücke, und das letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich die Grisha-Bücher meinem Mann zu lesen gegeben hatte. Aber bei dem war das Buch auch nicht erst, als ich mich in diesem Jahr dran machte, das Chaos in unserem Haus in Angriff zu nehmen und mich ans große Aufräumen machte, tauchte Shadow and Bone wieder auf, völlig eingestaubt auf dem Fußboden am Grund eines Bücherstapels. Ja, ich schäme mich, dass es so weit kommen konnte, aber jetzt sieht das Zimmer wirklich viel besser aus, und bevor das Buch noch einmal verschwinden konnte, habe ich Nägel mit Köpfen gemacht und es endlich gelesen. Und ich muss gestehen, ich hatte mir etwas mehr davon erwartet.
Das Buch – wahrscheinlich die ganze Trilogie – erzählt die Geschichte von Alina Starkov, die herausfindet, dass sie nicht nur über magische Fähigkeiten verfügt, sondern gleich die Sonnenruferin ist, auf die das Land Ravka seit Jahrhunderten wartet – seit ein verunglücktes magisches Experiment das Land buchstäblich gespalten zurückgelassen hat und ein Streifen aus Dunkelheit, bevölkert von todbringenden Flugungeheuern, Ost-Ravka von seiner Küste trennt. Alina landet am Zarenhof, wo sich die als Waise aufgewachsene Kartographin fremd fühlt, um in ihrer Kunst ausgebildet zu werden, und vermisst ihren Kindheitsfreund Mal, bis der mächtige Düsterling sie auf andere Gedanken bringt. Aber natürlich hat der andere Pläne für sie, als er erst vorgibt …
»Unlike anything I’ve ever read«, sagt das Testimonial von Veronica Roth auf dem Cover meiner Ausgabe, aber leider war für mich das Gegenteil der Fall, hat mich das Buch an zu viele gelesenen erinnert – nicht nur Bücher, die seitdem erschienen sind, sondern Fantasy aus den Achtzigerjahren, und ich fürchte, Slogan wie »Anders als alles, was ich gelesen habe« sagen wirklich nicht viel über die Originalität eines Werkes und mehr darüber, wie viel – oder wenig – die Testimonialgeber in ihrem Leben gelesen haben. In Shadow and Bone war so vieles so vertraut, dass der Plot praktisch keine Überraschungen mehr für mich übrig hatte, und das war schade.
So musste ich über Alinas wirklich andauerndem Herumgenöle an die Auserwählten in den den klassischen Fantasyromanen denken, deren ewiges Gewinsel »Warum ich?« sich wie ein roter Faden durch die Romane meiner Jugend gezogen hat. Alina hält es für einen Irrtum, dass sie bei den magiebegabten Grischa gelandet ist – schließlich ist sie als Kind negativ getestet worden, und überhaupt kann sie ihre Magie nicht kontrollieren, und alle Grisha sind so wunderschön, während sie selbst so dürr und unscheinbar ist, und die erste Hälfte des Buches lässt sich mit einem großen »Buhuhu!« zusammenfassen.
Alina ist heimlich in Mal verliebt, mit dem sie zusammen als Waisenkind aufgewachsen ist, schafft es aber nicht, ihm das zu gestehen – und wie ein Incel-Mann, der sich in der Friendzone gefangen wähnt, gönnt auch Alina Mal keine anderen Liebschaften, reagiert eifersüchtig auf jede Frau, die den Angebeteten auch nur ansieht, und macht sich damit bei mir ausgesprochen unbeliebt. Auch ihr ständiges Herumgejammer, wie hässlich sie doch ist, nervt – und natürlich erblüht sie, nachdem sie einmal ihre Magie gemeistert hat, zu bezaubernder Schönheit, was mich beinahe noch mehr genervt hat. Warum kann sie kein blasses, dürres Ding mit Augenringen bleiben?
Auch ihre Kämpfe, die Magie in sich zu finden, waren nur allzu vertraut, erinnerten zu sehr an die Heerscharen unbegabter Zauberlehrlinge, die sich, ob sie nun Schmendrick, Wuntvor oder Tristan heißen, so archetypisch durch die Achtzigerjahrefantasy ziehen, dass ich ihnen in der Frühzeit meiner Autorenkarriere einen einen satirischen Roman gewidmet habe, in dessen Mittelpunkt die AUZ, Akadmie für Unfähiges Zaubern, stand. Und wie der Großteil ihrer Vorhänger meistert auch Alina ihre Magie, und das schon bevor der Düsterling ihr einen Magieverstärker aus dem Geweih eines mystischen weißen Hirschen umlegen muss. Natürlich gibt er diesen Plan dann trotzdem nicht auf, denn damit lässt sich Alinas ohnehin schon überwältigende Zauberkraft nochmal vervielfachen, ob sie will oder nicht.
Der Düsterling – so übersetze ich mal das »Darkling« aus dem englischen Original – ist der mächtigste Grisha des Landes, mindestens hundertzwanzig Jahre alt, aber immer noch knackig, und seine Magie ist das Gegenteil von Alinas: Er kann Schatten heraufbeschwören, ganz wie sein Vorfahr, der da seinerzeit die Dunkelheit über Ravkas Mittelteil gebracht hat. Und natürlich ist er, wie könnte das bei diesem Namen auch anders sein, der Schurke des Buches – auch hier: Keine Überraschungen. Dass eine sinistre Gestalt, die über die Mächte der Dunkelheit verfügt, böse sein könnte … Wirklich, Sherlock? Überraschender wäre es gewesen, wäre er wirklich die zerrissene Gestalt, die den angerichteten Schaden wiedergutmachen will und trotz seines düsteren Namens das Land heilen. Doch den Gefallen tut Leigh Bardugo, deren Debütroman Shadow and Bone ist, mir nicht.
Aber mehr noch als diese archetypische Schwarzweißmalerei gestört hat mich eine Szene weiter vorn im Buch, als der Düsterling noch den Anschein erweckt, ein Gutling zu sein – und Alina küsst. Und sie das irgendwie total romantisch findet. Mädchen, er ist mindestens hundert Jahre älter als du, mächtig wie nur was, dein Vorgesetzter, und hat dich nicht mal gefragt – und egal wie gut oder böse er sein mag, dieses Verhalten ist absolut übergriffig und sollte auch ganz klar als solches gekennzeichnet sein. Aber dieses Buch ist bereits 2012 erschienen, in einer Zeit, als es für solche ekligen Grenzüberschreitungen noch kein solches Bewusstsein gab wie seit Beginn der #metoo-Bewegung 2017. Trotzdem mag ich das nicht entschuldigen. Diese Szene hätte mich auch 2012 schon gestört, und es ist wirklich nichts romantisches daran.
Alles in Allem ist der erste Grisha-Band damit wirklich ziemlich abgedroschen und vorhersehbar, und ich finde wirklich nicht viel Originelles daran. War es 2012 neu, solche Geschichten aus weiblicher Sicht zu erzählen? Die klassischen unfähigen Zauberlehrlinge waren allesamt Männer, hier haben wir also eine unfähige Zauberin, gepaart mit ganz viel Herzschmerz, was in den 1980ern auch noch kein Thema in der Fantasy war. Und dann ist da natürlich noch das Setting, das sich nicht an der angloirischen Mythologie orientiert, sondern in einer Art Pseudo-Russland angesiedelt ist.
Aber auch diese Elemente steigen und fallen mit dem, was man als Leser über Russland oder die russische Sprache weiß. So hat Bardugo das Wodka-ähnliche alkholische Getränk, das in ganz Ravka konsumiert wird »Kvas« genannt – nur, dass es bereits etwas mit diesem Namen gibt: das ist kein Schnaps, sondern eine mild alkoholische Brause aus vergorenem Brot. Warum der Schnaps dann nicht Wodka heißen darf, wärend hingegen der Champagner, der immerhin nach einer irdischen Region benannt ist, seinen Namen behalten darf, ist mir schleierhaft.
Auch drüber gestolpert bin ich, dass mitten in die Dialoge bröckchenweise Russisch eingestreut wird – so wird der König dann mit »moj tsar« angeredet (und überhaupt ist ein Zar kein König, sondern ein Kaiser) – wenn Russisch die Fremdsprache ist, was sprechen sie dann ansonsten in Ravka? Das hat mich ja selbst bei The Haunting of Moscow House schon gestört, aber da sprechen sie neben Russisch auch Englisch und Französisch miteinander, sodass ich das da zur Unterscheidung noch akzeptieren konnte. Hier wirkt es hingegen bemüht und überflüssig. War The Haunting of Moscow House ein Stück kundiger, perfekt recherchierter Literatur, wirkt Ravka plump »wie sich Klein Fritzchen das alte Russland vorstellt«.
Und ist es origineller Weltenbau, real vorhandene Staaten zu nehmen wie Russland, China, die Niederlande oder die Skandinavischen Länder, sich reichhaltig bei ihrer Kultur zu bedienen, und nur einen anderen Namen dranzupappen? Klar, es ist mal was anderes, sich an Russland zu orientieren als, wie früher üblich, immer an England, Schottland oder Irland, aber ich finde einfach wenig Eigenständiges in diesem Buch.
An anderen Stellen lässt sich Bardugo echte Chancen, die Leserschaft mal zu überraschen, schändlich entgehen. Da machen sich Alina und Mal auf die Suche nach Morozovas Hirsch, dieses legendären Tiers, an dessen Geweih sie wollen, und als sie die Herde finden, ist es kurz vor dem Frühlingsanfang. Das ist genau die Zeit, in der Hirsche ihr Geweih abwerfen und ihnen ein neues wächst, und ich hätte es so schön gefunden, hätte Bardugo das in ihr Buch eingebaut: Sie finden Morozovas Hirsch, aber, Überraschung, er hat gerade kein Geweih, und statt ihn zu töten, müssen sie finden, wo er das alte abgeworfen hat. Das wäre mal eine nette Wendung gewesen – stattdessen steht er da mit seinem prachtvollen weißen Geweih, und dann passiert auch nur noch genau das, was ich so vorhergesehen habe.
Ich weiß nicht, ob ich zu hart mit Leigh Bardugo ins Gericht gehe, weil das schließlich nur ihr Debütroman ist. Aber ich habe neun Jahre damit verbracht, mich auf die Geschichte, über die ich so viel Gutes gehört hatte, zu freuen, und auf die anschließende Lektüre von Six of Crows, dass ich jetzt doch wirklich ziemlich entflasht bin. Ja, ich will die anderen Bände der Grisha-Serie auch noch lesen, schließlich stehen die bereits im Regal, und dann will ich mich endlich an die Krähen machen in der Hoffnung, dass mir die besser gefallen – aber Shadow and Bone, dieser Bestseller, mit dem das alles angefangen hat, konnte mich wirklich nicht überzeugen.
Ob ich die Reihe weiterempfehle oder nicht – damit warte ich ab, bis ich Six of Crows und den Nachfolgeband gelesen habe und dann sagen kann, ob die Grisha-Lektüre zum Verständnis wirklich zwingend vorgeschrieben ist. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt denke ich, es gibt so viele bessere Bücher, und ich habe aus Shadow and Bone buchstäblich nichts mitnehmen können. Ich mochte die Figuren nicht, ich fand es nicht spannend, ich fand es nicht originell, und ehe ich mich jetzt an den zweiten Teil mache, Siege and Storm, lasse ich das ganze Grishaverse erstmal ein bisschen sacken.