Melissa Caruso: The Last Hour Between Worlds

Es gibt Bücher, die sind für mich so untrennbar mit bestimmten Feiertagen verbunden, dass ich sie immer wieder um die gleiche Zeit im Jahr lese. Das beste Beispiel, das mir dafür einfällt, ist Terry Pratchetts Hogfather, das ich jedes Jahr, wenn ich zu Weihnachten mit der Bahn zu meiner Familie gefahren bin, im Zug gelesen habe, als Hörbuch gehört oder später an Heiligabend nach der Bescherung in der Verfilmung angesehen habe. Jetzt habe ich ein Buch gefunden, das wie ein Hogfather fürs neue Jahr funktioniert, und das mich so sehr mitgerissen hat, dass ich mir vorstellen kann, es auch wieder und wieder zu lesen und zu einem meiner persönlichen Kulttitel zu erklären.

Wie so viele Bücher, die ich zur Zeit lese, war das kein gezielter Kauf, sondern ist mir über eine Buchbox ins Haus geflattert, in diesem Fall die Illumicrate vom letzten November. Diese Bücher sammeln sich auf einem Regal in meinem Schlafzimmer, und weil mein Ziel ist, sie schneller wegzulesen, als sie nachkommen, haben sie gerade eine hohe Priorität auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Vor allem bei der Illumiucrate war noch kein Fehlgriff dabei – aber ich hatte noch kein Buch darunter, das sich so sehr wie für mich persönlich geschrieben angefühlt hat, wie das jetzt bei Melissa Carusos Last Hour Between Worlds der Fall war.

Das Buch hatte wirklich alles, um mein Herz zu gewinnen: Immer surrealistischer werdende Parallelwelten (und Parallelwelten von Parallelwelten), einen fesselnden Fantasykrimiplot, mitreißende, interessante Figuren, und eine zarte Romanze zwischen zwei Frauen, die buchstäblich sind wie Hund und Katz. Das Buch hat mich so gepackt, dass ich es in kaum mehr als zwei Tagen förmlich verschlungen habe, immer in der Angst vor einem zu offenen Ende, denn eine Fortsetzung ist schon angekündigt, aber erst für August – und die Vorstellung, so lang warten zu müssen, bis die Geschichte aufgelöst wird, erschien unerträglich.

Aber da habe ich mir unnötig Sorgen gemacht. Auch wenn The Last Hour Between Worlds der erste Band von The Echo Archives ist und genug Potenzial für eine oder am besten gleich mehrere Fortsetzungen mitbringt, ist das Buch in sich abgeschlossen und gut als Standalone zu lesen. Und auch wenn ich jetzt angefixt bin und sehnsüchtig auf The Last Soul Among Wolves warte, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie Caruso den ersten Band toppen sollte – so vieles, das in diesem Buch pasiert, ist nicht mehr zu steigern und kann vielleicht wiederholt, aber nicht mehr übertroffen werden.

Wie schon in Until We Shatter spielt The Last Hour Between Worlds komplett in einer einzigen Stadt, etwas, das ich sehr zu schätzen weiß, weil es den Weltenbau besonders dicht macht. In Acantis haben wir rivalisierende Gilden, die nach Tieren benannt sind: So findet man zum Beispiel Schmetterlinge auf der Bühne des Theaters, Raben sind Magier, Katzen zuständig für Heimlichkeit, und Hunde sind Ermittler. Das, was die Stadt aber so besonders macht, sind ihre Echos – Parallelwelten, eine seltsamer und gefährlicher als die andere, bis nach elf von ihnen die Leere kommt. Die Echos können über Portale bereist werden, sind eine Quelle für magische Artefakte, und manche Leute, insbesondere Kinder, rutschen versehentlich hinein.

Kembral Thorne ist ein Hund mit einer Spezialisierung für Echo-Rückholaktionen. Für einen verirrten Welpen ist sie schon mal bis ins sechste Echo hinunter gereist, etwas, das sie so schnell nicht wiederholen möchte. Zum Zeitpunkt der Handlung ist sie außer Dienst – nicht, weil sie irgendwie in Unehre aus der Gilde ausgeschlossen worden wäre, im Gegenteil, sie wird händeringend vermisst: Aber sie ist im Mutterschaftsurlaub. Ihre Tochter Emmi ist gerade zwei Monate alt, schläft noch lang nicht durch, und Kembral ist ein übernächtigtes Wrack mit Stilldemenz, hat seit der Geburt alle sozialen Kontakte eingebüßt, und gönnt sich, während die Schwester aufs Baby aufpasst, einen Abend auswärts auf Dona Marjories Neujahresempfang.

 Um ein Uhr muss Kembral zurück sein, dann hat Emmi Hunger, und bis dahin will sie ihre freie Zeit genießen – auch, wenn sie schlecht Smalltalk ist, Kollege Pearson versucht, sie zurück in den Job zu quatschen, der zwielichtige Stadtrat Harking ihr unverhohlen droht, und dann ist auch noch Rika Nonesuch da ist, die Katze, mit der Kembral mal beinahe angebandelt hätte, nur um sich dann betäubt in einer Gasse unter einem Haufen Müll wiederzufinden. Das verspricht kein entspannter Abend zu werden – aber dann bricht der erste Gast tot zusammen, vergiftet, kurz danach liehen alle Gäste bis auf Kembral, die sich wegen des Stillens an Wasser gehalten hat, vergiftet am Boden, die seltsame Standuhr, sicherlich ein Echo-Relikt, beginnt zu schlagen –

Und als nächstes findet sich Kembral auf Dona Marjories Neujahresparty, es ist wieder neun Uhr, alle sind am Leben und ahnen nicht, dass sie eben noch tot waren – aber das Dekor ist anders, die Gäste tragen andere Kleider, und Kembral versteht schnell, dass sie, zusammen mit dem ganzen Anwesen, im Echo gelandet sind. Dort finden sie sich wieder als Teil eines Spiels, in dem es um mehr als nur Leben und Tod geht, sondern um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal des kommenden Jahres, denn der Sieger darf dem Jahr einen Namen geben und seinen Stempel aufdrücken, und wenn das ein unsterblicher Empyrean gewinnt, wird großes Unheil über die ganze Welt hereinbrechen. Kembral hat eine Nacht, und elf Echos, Zeit, das Ruder rumzureißen – und ihre einzige Verbündete, die nicht mit jedem Schlag der Standuhr das Gedächtnis verliert, ist ausgerechnet ihre kätzische Widersacherin Rika …

Das erste, was mich wirklich an diesem Buch begeistert hat und es von allem, was ich in der letzten Zeit gelesen habe, unterscheidet, ist sein Umgang mit Zeit. The Last Hour Between Worlds ist in Echtzeit erzählt, spielt auf knapp 400 Seiten in einer einzigen Nacht, die wie aus Kembrals Perspektive nahezu nahtlos miterleben. Als an einer Stelle ein Zeitraum von vielleicht fünf Minuten übersprungen und zusammengefasst wird, fühlt sich das beinahe wie Verrat an, ich will nichts verpassen, ich will jede Minute an Kembrals Seite sein und herausfinden, was Sache ist. Das einzige ähnliche, was mir in der Hinsicht einfällt, ist Alfred Hitchocks Film Cocktail für eine Leiche, der komplett ohne Schnitte auskommt (sie mussten tricksen, um das Ende der Filmrolle zu kompensieren), aber ich kenne kein Buch, das so etwas versucht hätte.

Natürlich drängen sich Vergleiche mit dem Film Und Täglich Grüßt das Murmeltier auf, auch in verschiedenen PC-Spielen der letzten Zeit hat man es mit solchen Zeitschleifen zu tun, aber hier ist das Ganze mit neuen Ideen gefüllt: Weil jede Wiederholung des Abends auf einer neuen Wirklichkeitsebene spielt, verändern sich jedes Mal genug Sachen, um es spannend und abwechslungsreich zu halten. Mal verlässt Kembral die Party und bewegt sich durch eine immer abgedrehtere Version ihrer Stadt, mal bleibt sie bis zum Glockenschlag drinnen, immer bemüht, das Unausweichliche zu vermeiden: Das Auftreten des Empyrean Rai, der ein scheinbar zufällig ausgewähltes Mitglied der Gesellschaft tötet und damit den nächsten Tick einläutet.

Bedingt durch den eng gewählten Schauplatz – Marjories Party mit ihren Gästen – hat man es mit einer beschränkten Anzahl Figuren zu tun, die mir mit jedem Glockenschlag mehr ans Herz gewachsen sind. Erst wirken sie schematisch, langsam lernt man sie besser kennen, und wie in einem guten Krimi geht das Mitraten los: Welcher Gast steckt mit dem Empyrean unter einer Decke, wer hat Rai eingeladen, wer ist vielleicht selbst ein Spieler im Kampf um das neue Jahr? Da kam mir mein Lesejournal, das ich seit Anfang des Jahres akribisch führe, einmal genau recht, ich habe Beobachtungen notiert, Verdächtigungen ausgesprochen und mich am Ende gefreut, dass ich mit den meisten meiner Hypothesen genau richtig gelegen habe.

Dieses Buch vereint die besten Elemente aus Krimi und Fantasy in sich. Am Anfang, als die erste Instanz der Party in giftigem Tod und Chaos endet, musste ich noch an Agatha Christies Nicotin denken, später immer mehr an die Bücher Raymond Chandlers – nur ist Kembral Thorne eine Hauptfigur, wie sie weiter von Hercule Poirot oder Philip Marlowe kaum entfernter sein könnte: Sie ist eine frischgebackene Mutter, hin und hergerissen zwischen ihrem detektivischen Pflichtgefühl, die Welt, die Stadt oder zumindest die Party mit ihren Gästen zu retten, dem Gefühl, endlich wieder einen anderen Sinn zu haben, als Milchbar für ihre Tochter zu spielen, und auf der anderen Seite dem Drang, ebendiese Tochter wiederzusehen. Caruso weiß, wovon sie schreibt – auch wenn ihre eigene erstgeborene Tochter zum Zeitpunkt des Schreibens schon auf die zwanzig zugegangen ist, erinnert sich die Autorin noch zu lebhaft daran, wie es ist, einen Säugling zu haben, beschönigt nichts und lässt einen doch zugleich teilhaben an diesem wahrhaft weltbewegenden Glück.

So ist Kembral eine fast schon schmerzhaft lebendige Figur, ihr Gegenstück Rika enigmatisch, zerbrechlich, zäh, und natürlich ahnt man früh, dass die beiden füreinander bestimmt sind, auch wenn sie wie die genauen Gegenteile voneinander erscheinen. Sie müssen sich zusammenraufen, müssen auseinanderdröseln, weswegen Rika Kembral unter Drogen gesetzt und im Müll entsorgt hat, und wer meinem Buchblog schon länger folgt, weiß, dass ich nicht der größte Fan vom Enemies-to-Lovers-Trope bin – aber hier ist die Romanze nie Selbstzweck, passiert mehr nebenbei und ist niemals nervig, und man merkt schnell, wie sehr die beiden eigentlich aneinander hängen, auch wenn sie aktiv versuchen, dagegen anzuarbeiten.

Für mich war The Last Hour Between Worlds ein atemberaubendes Erlebnis, das ich gerne noch einmal zum ersten Mal lesen würde, um die Spannung zurückzusetzen und alles nochmal ganz neu erleben zu können. Aber es fällt mir tatsächlich schwer, mir die Fortsetzung auszumalen. Das Buch zieht so viel Wucht aus der schnittlosen Erzähltechnik, die, wenn man das in einem anderen Buch zu wiederholen versucht, nicht mehr so frisch erscheint – auf der anderen Seite würde Kembrals Geschichte ohne diesen Kniff deutlich verlieren. Also alles auf Anfang und nochmal das gleiche in Grün? Oder etwas ganz anderes machen und dabei an Wiedererkennungswert verlieren?

Das gleiche gilt für den Weltenbau: Ich habe Acantis und seine Echos geliebt, aber in The Last Hozur Between Worlds haben wir so ziemlich alles gesehen, was es zu sehen gibt: Wie will Caruso das übertreffen? Wo will sie neue Eindrücke hernehmen, die genauso mächtig und bildgewaltig sind wie das, was wir schon kennen? Vom Plot her gibt es genug Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung, dazu kommt, dass ich viele der Figuren – allen voran Kembrals Kindheitsfreundin Jaycen, Dichterin und Duellistin, und ihr nichtbinäres Geschwister Blair – gerne wiedersehen will, wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Und doch habe ich Angst, dass mich eine Fortsetzung nicht ganz so sehr mitreißen könnte, wie das dieses Buch getan hat.

Die übliche Frage am Schluss kann ich mir hier eigentlich sparen. Natürlich empfehle ich dieses Buch weiter, aber sowas von! Es ist fesselnd erzählt, intelligent konstruiert, bietet unvergessliche Figuren und eine Handlung, an die ich mich länger erinnern werde, als mir lieb ist, weil ich am liebsten mein Gehirn beim nächsten Glockenschlag resetten würde und gleich nochmal alles von vorn lesen. Wird das jetzt mein Standardbuch für Silvester und den Neujahrstag? Ich weiß es noch nicht. Noch ist das alles zu frisch, bin ich noch zu sehr in die Geschichte involviert, gehe ich noch zu gern in den Straßen von Acantis, drittes Echo, spazieren – noch kann ich nicht loslassen, und ohne loslassen auch kein Reset. Aber bis es so weit ist, werde ich dieses Buch einfach allen zum Lesen in die Hand drücken: Fantasyfans, Krimifans, Fantasykrimifans, frischgebackenen Müttern und -Vätern und allen, die einmal ein wirklich außergewöhnliches Abenteuer erleben wollen. Ein tolles Buch, von dem ich noch lange zehren werde.

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