Anfang März habe ich den ersten Band der Sinister Summer-Reihe gelesen, und während ich es bis heute noch nicht geschafft habe, den Abschlussband von Geraldine Harris‘ Seven Citadels zu lesen, habe ich es geschafft, diese Kinderbuchreihe jetzt abzuschließen. Und ich habe es nicht bereut. Während mir der vierte Band, Menacing Manor, nicht ganz so gut gefallen hatte wie die anderen Teil der Serie, hat Kiersten White mit dem letzten Teil wieder zu alter Form zurückgefunden. Was sich über vier Bände entwickelt hat, wird im fünften zu einem würdevollen und runden Abschluss gebracht: Und wo es vordergründig von drei Geschwistern handelt, die ihre verschwundenen Eltern suchen und nach einer Reihe spannender Abenteuer mit übernatürlichem Touch auch finden, geht es eigentlich um so viel mehr – drei verschrobene Jugendliche, allen voran der von zahlreichen Phobien geplagte Alexander und seine Zwillingsschwester Theo, die wahrscheinlich eine Form von ADHS hat, die aus ihren Anderssein Stärke schöpfen und lernen, für sich selbst und die, die ihnen am Herzen liegen, aufzustehen.
Nachdem ihr Sommer die Sinister-Winterbottom-Geschwister schon durch Spaßbad, Wellness-Hotel, Sommerlager und Wissenschaftscamp gearbeitet haben, ist im Abschlussband die Krönung aller Touristenfallen dran: Nichts geringeres als ein Freizeitpark bildet die Kulisse für das große Finale, aber bis sich vor dem nächtlich angestrahlten Riesenrad ein riesiger Roboter und ein nicht minder großer Kraken den großen Endkampf liefern können, muss viel passieren – und die Frage, wer gut ist und wer böse, wer recht hat und wer nicht, wird immer wieder neu gestellt, neu beantwortet, bis am Ende die Geschwister, aber auch die Lesenden selbst, die Antworten darauf gefunden haben. Hatte ich ich Menacing Manor noch den Tiefgang vermisst, ist er hier wieder zurück. White verzichtet auf Schwarz-Weiß-Malerei, außer, wo es um Rosinen geht, und stellt Fragen, die zunehmend unbequem zu beantworten sind:
Wenn die Sirene Schiffe zerschellen lässt, um das Leben ihres Freundes, des Kraken, zu schützen, ist sie dann im Recht, oder hat sie unrecht? Heiligt der Zweck die Mittel? Wie weit darf man gehen, um sich selbst oder andere zu schützen? Da geht zwar stellenweise der erhobene Zeigefinger hoch, wird das Ganze ein bisschen zu wesentlich, aber ich denke, eine fünfbändige Reihe darf ihre Moral am Ende ruhig etwas dicker auftragen, damit sie auch hängenbleibt. Ich war jedenfalls sehr erfreut, dass die Schurken der ersten vier Teile, insbesondere der immer wiederkehrende schnurrbartbewehrte Widersacher Edgaren’t, sich am Ende als vielleicht nicht ganz so schurkisch herausstellen – ohne sich dabei jetzt in Lichtgestalten zu verkehren – und auf der anderen Seite die Besten Eltern der WeltTM so gut dann auch wieder nicht sind und erst von ihren Kindern daran erinnert werden müssen, für welche Werte sie eigentlich stehen und dass sie das, was sie anderen gepredigt haben, auch für sich und ihre eigenen Taten beherzigen müssen.
Vieles an diesem Buch hat mir gefallen. Ich mochte die Kulisse mit dem Freizeitpark am Meer, dessen Kraken-Maskottchen den Geschwistern sehr gelegen kommen, und hätte ruhig noch mehr davon haben mögen – schließlich hat Kiersten White mit dem für Erwachsene veröffentlichten Mystery-Thriller Hide bewiesen, dass sie Freizeitpark ein ganzes Buch lang mit Spannung füllen kann, und auch wenn eine ganze Reihe an Fahrgeschäften kurz angerissen werden, hätte ich mich da über noch mehr Details gefreut. Und vielleicht wirklich ein paar weniger unterirdische Tunnel, auch wenn die in diesem Band mittels einer Fahrraddraisine in größerem Tempo bereist werden können.
Weniger gut gefallen hat mir, dass die Geschichte zwischendurch doch arg in Slapstick-Absurdität abgedriftet ist. Natürlich hatten auch die anderen Bände ihr stellenweise unlogisches Augenzwinkern, aber in Haunted Holidays überschlagen sich die Ereignisse stellenweise so, dass es nicht mehr glaubwürdig ist. Dass Vater Winterbottom, der sonst kleine Battlebots baut (mit integriertem Keksfach, damit der Verlierer getröstet werden kann), jetzt mit einem Voltron-großen Killerroboter ankommt, fand ich schon etwas zu dick aufgetragen, und ich fand die Darstellung der Elternfraktion – neben den Sinister-Winterbottoms umfasst sie auch die Familien von Edgar, Quincy, Mina und Lucy, Henry und Mr. Frank – im Vergleich zu den sehr differenziert ausgearbeiteten Kindern doch arg schematisch.
Aber eines kann ich Haunted Holiday damit nicht vorwerfen: dass es zu wenig Figuren hätte. Im Gegenteil, es wimmelt nur so von großen und kleinen Rollen. Jeder, der in den ersten vier Bänden eine Rolle gespielt hat, wird nochmal hervorgeholt und darf mitspielen, und dadurch wirkt das Buch stellenweise doch etwas wuselig. Wenn wir im Showdown angekommen ist, haben wir acht Kinder, mindestens so viele Erwachsene, die geisterhafte Tante Saffronia, die zwischendurch etwas untergeht und dann doch wieder auftaucht, plus Roboter und Krake, und da fällt es wirklich nicht mehr leicht, den Überblick zu behalten, und auch wenn der Focus auf den Zwillingen bleibt, passiert beinahe ein bisschen zu viel für meinen Geschmack – aber natürlich, es ist nicht der Showdown eines Buches, sondern einer ganzen Romanreihe, und da will man auch etwas bekommen für sein Geld.
Der eigentliche vermeintliche Kampf der Giganten geht dabei etwas antiklimaktisch aus, gelöst wird das ganze, pädagogisch wertvoller, über einen Dialog, und am Ende zeigen sich alle Seiten zumindest so weit einsichtig, dass sie bereit sind, einander die Hände zu reichen und zu verstehen, wo sie falsch abgebogen sind. Dadruch, dass niemand wirklich der Gute ist – von den Sinister-Winterbottom-Geschwistern und ihren Freunden vielleicht einmal abgesehen – gibt es auf beiden Seiten Einsicht und Entschuldigungen und die Hoffnung, dass es jetzt besser wird.
Über allem steht die Frage, was – oder wer – einen Schurken macht. Ist es die Erziehung? Sind es die Gaben, die man mitbringt? Reichen Traumata aus, um einen Guten böse zu machen, und wie weit darf Rache gehen? Hier spielt das Buch mit vielen Versatzstücken, zitiert die Horrorklassiker der Weltliteratur und lässt von den Dres Frankenstein und Jekyll über Vampire, Geister und Zombies am Ende eigentlich nur Werwölfe aus – trotzdem würde ich die Reihe nicht unter Fantasy einsortieren. Denn unterm Strich geht es nicht um den Umgang der Kinder mit dem Übernatürlichen, sondern um den mit sich selbst und den ganz und gar weltlichen Problemen.
So muss Alexander zwei gewaltige Ängste überwinden, um zu verhindern, dass seine größte Angst von allen wahr wird, und wird darüber nicht zum furchtlosen Helden, sondern braucht die Hilfe seiner Freunde, um es zitternd und grüngesichtig bis in die höchste Gondel des Riesenrads zu schaffen – aber er bekommt sie auch, weil seine Freunde und Schwestern ihn unterstützen, statt ihn auszulachen. Und Theo, die ihre eigenen Gefühle schwer lesen kann, merkt, dass sie, wo es um andere geht, tatsächlich durchaus empathisch ist, und wächst daran, ohne dabei den Bienenschwarm, der in ihrem eigenen Inneren vor sich hin schwirrt, jemals zu verlieren. Am Ende von Buch und Reihe sind die beiden immer noch weit davon entfernt, normale, neurotypische, psychisch unauffällige Kinder zu sein, sie sind immer noch sie selbst und alles andere als einfach oder unkompliziert, aber sie haben sich trotzdem in sich weiterentwickelt.
Nur für die große Schwester Wil gibt es keine so markante Entwicklung. Das höchste der Gefühle ist, dass sie mal von ihrem Handy aufblickt und auf ihre kleinen Geschwister eingeht, ansonsten darf sie ein bisschen Romantik mitbringen – nicht zu viel, dies ist kein Knutsch-Buch – und bleibt ansonsten die geniale Hackerin, die im Vergleich zu den anderen zu wenig Ecken und Kanten abbekommen hat und darum auch nicht so viel Identifikationspotenzial bietet. Natürlich ist sie zu alt, um als Identifikationsfigur in einem Buch für Zehnjährige herzuhalten, aber ich hätte ihr größere Anteile an der Handlung gegönnt – immerhin ist sie eine Sinister-Winterbottom, muss sich mit dem düsteren Erbe ihrer Mutter herumschlagen und ist vielleicht die erste der Kinder, für welche die Frage, ob sie nun eine Schurkin sein will oder nicht, relevant wird. Die App zur Weltherrschaft hat sie jedenfalls schon mal gecodet, auch wenn sie die am Ende nur benutzt, um damit die Elektronik des gesamten Freizeitparks fernzusteuern.
Und auch an anderen Stellen habe ich gemerkt, dass ich gut und gern vierzig Jahre älter bin als die avisierte Zielgruppe, wenn ich bestimmte Plotwendungen doch ein wenig zu vorhersehbar gefunden habe. Da sind die Zwillinge und ihre geniale große Schwester so begriffsstutzig, dass es nur mit Dramaturie erklärt werden kann: Schon im ersten Band müssen sie erkennen, dass sie es nicht mit der Parkbesitzerin, sondern deren böser Zwillingsschwester zu tun haben, im dritten finden sie ein Foto, auf dem ihre Mutter, über deren Familie sie nichts wissen, scheinbar zweimal abgebildet ist, und kommen und kommen und kommen nicht auf die Idee, warum ihnen dann Essa so seltsam bekannt vorkommt … Das hat mich dann schon etwas gestört, schließlich werden die Geschwister als durchaus intelligent dargestellt, und sie hätten schon von selbst und viel früher darauf kommen können, was Sache ist.
Aber ich will wirklich nicht zu laut jammern. Diese Reihe hat mich über fünf Bände immer gut unterhalten, mit ihren Wendungen im fünften Band sogar noch ein bisschen überraschen können, und at immer wieder neue Sachen mitgebracht, dass es mir, obwohl zusammen doch deutlich über tausend Seiten waren, niemals langweilig geworden ist. Ich denke, dass der dritte Band, Camp Creepy, wohl mein Favorit aus der Reihe ist, aber ich fand Haunted Holiday, trotz der etwas gehetzten Handlung und des ein bisschen zu moralisierenden Endes, ein wirklich würdiger Abschluss war, der mir auch wirklich gut gefallen hat.
Jetzt kann ich nur hoffen, dass die Bücher vielleicht doch noch irgendwann auf Deutsch erscheinen. Ich halte es nicht für zu wahrscheinlich, da sie viele schwer zu übersetzende Wortspiele enthalten und mit ihrem ganzen Freizeitattraktionen vielleicht ein bisschen zu typisch amerikanisch sind, als dass Kinder hierzulande sich so gut darin wiederfinden können – aber ich könnte mir trotzdem vorstellen, dass meinen Neffen, die nicht so viel lesen, diese Geschichte doch gefallen könnte. Ich halte ein Auge drauf, und auch darauf, ob Kiersten White, die auch noch ein tolles Nachwort geschrieben hat, in dem ich mich persönlich sehr wiedergefunden habe, noch mehr Bücher für diese Altersgruppe schreiben wird. Bis dahin warte ich auf ihren queeren Vampirroman Lucy Resurrected. Und freue mich drauf.