In meiner Jugend habe ich Bücher buchstäblich verschlungen. Dass ich bei einem Appetit von bis zu drei Büchern am Tag nicht in die Beschaffungskriminalität abgerutscht bin, verdanke ich allein meiner Stadtbücherei, die mich großzügig mit Lesestoff versorgt hat. Heute lese ich, nach langer Pause, wieder regelmäßig, aber an die alten Zeiten kann ich nicht anknüpfen. Und auch dieses Buch, The Book Eaters, bei dem es im Wortsinn ums Bücherfressen geht, habe ich nicht verschlungen, sondern in kleinen, wohldosierten Häppchen zu mir genommen. Und auch wenn ich am Ende nicht enttäuscht von der Geschichte war, hatte ich mir letztlich doch mehr davon erwartet.
Erstmal klang es wie genau das Buch für mich, versprach mir eine queere Liebesgeschichte und Figuren, die ihren Hunger auf Bücher ernst nehmen, aber was ich dann bekommen habe, war mir nicht nur über weite Teile zu grausam, sondern machte vor allem für mich zu wenig aus dem Bücheressen an sich. Wer sich von Büchern ernährt, von Literatur und dem Wissen der Welt, sollte sich damit doch zu einer besonders aufgeschlossenen, empathischen Person entwickeln, ein innigeres Verhältnis zum Buch pflegen als diejenigen, die es einfach nur lesen und nicht in ihre Blutbahn aufnehmen – aber tatsächlich sind die Bücherfresser der unsympathischste Haufen, den man sich nur irgendwie vorstellen kann, rigide Hardliner und Frauenfeinde, die sich nichts von dem, was sie da verspeisen, irgendwie zu Herzen nehmen.
Vielleicht habe ich da zu viel erwartet. Wenn ich mir ein Butterbrot schmiere, pflege ich auch keine besonders enge Beziehung zu Getreide und Sauerteig, und wahrscheinlich macht es doch einen Unterschied, ob ich ein Buch lese, weil ich in die Geschichte verliebt bin, oder weil mein Stoffwechsel darauf angewiesen ist. Auch Protagonistin Devon ist keine feinsinnige Literaturliebhaberin, sondern eine verzweifelte Mutter, die bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen, um ihr Kind zu retten, immer auf der Flucht, ein alkokolkrankes Wrack. Und ich muss zugeben, nach den ganzen Romantasybüchern um siebzehnjährige Mädchen, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, war es eine Wohltat, mal eine erwachsene Frau, eine Mutter noch dazu, zur Hauptfigur zu haben. Mütter sind irgendwie sehr, sehr selten Hauptfiguren, sie bleiben aufopfernd im Hintergrund, und meistens werden sie gleich durch Tod aus der Handlung entfernt. Devon klammert sich ans Leben, und an das ihres Sohnes, aber ihre Geschichte hat mich über weite Teile so zornig gemacht, dass ich sie nur packen und schütteln wollte für das, was sie alles mit sich machen lässt.
Auf zwei Zeitebenen – einer für die im Jahr 2002 angesetzte Gegenwartshandlung, einer für die Vorgeschichte – wird erzählt, wie Devon vom unterdrückerischen System der Bücherfresserfamilien zerrieben wird und daraus auszubrechen versucht, und während alles immer nur schlimmer und noch schlimmer wird, hat sich das Lesen als so freudlos herausgestellt, dass ich nur in kleinen Inkrementen durch das Buch durchgekommen bin und wirklich sehr wenig Spaß daran hatte. Ich hatte keine Cosy Fantasy erwartet, aber das ganze war doch etwas hart und heftig für meinen Geschmack. Wenn ein Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe, Content Notes gebraucht hätte, dann dieses – es passieren einige Dinge, vor allem ein Zwischenfall mit einem Baby, vor denen ich gern gewarnt worden wäre und die für andere Leute Grund genug wären, dieses Buch zu meiden oder, wenn sie unvorbereitet darüber gestolpert wären, echten emotionalen Schaden hätten nehmen können.
Für mich ist ein Buch nichts, das ich mit Ketchup bestreiche und runterschlinge, wie Devon es tut, wenn sie ihre Buchzähne ausfährt. Ich nehme Anteil an dem, was ich lese, und den meisten Leuten, die ich kenne, geht es ähnlich, und jetzt muss ich sagen, dass ich Leuten, die selbst kleine Kinder habe, ganz klar von der Lektüre von The Book Eaters abrate. Andere Warnungen, weil es wirklich sehr zornig macht, ist für die massive Frauenfeindlichkeit, der Bücherfresserinnen ausgesetzt sind, und dann gibt es noch diverse Szenen roher, für mich übertriebener Gewalt, die das Buch in meinen Augen nicht besser gemacht haben. Wirklich keine leckere Lektüre. Nichts gegen Bücher, die verstören und aufrütteln – aber hier passiert das irgendwie nicht auf gute Weise.
Die für mich interessanteste Figur ist Cai, Devons Sohn. Eigentlich ein Kind von fünf Jahren, ist er nicht als Bücher- sondern als Geistfresser (»Mind Eater«) geboren worden, und statt nahrhafter Wälzer muss er in regelmäßigen Abständen, mindestens monatlich, besser öfter, einen menschlichen Verstand aufschlürfen, und so vereint er in sich die Wesen und das Wissen mehrerer Dutzend Erwachsener, die ihn emotional überfordern und mental überladen – eine tragische, altkluge kleine Gestalt, und sein Schicksal hat mich wirklich berührt. Ich konnte auch Devons Zerrissenheit nachempfinden, wenn sie die Wahl hat, ihr Kind hungern zu lassen oder zur Mörderin zu werden. Die Alternative, eine Droge mit Namen Erlösung (»Redemption«) ermöglicht es Geistfressern, sich wie ein normaler Bücherfresser von Literatur zu ernähren, auch wenn der Drang nach Hirnmasse bestehen bleibt – aber Erlösung ist nicht mehr zu haben, seit die Ravenscars, die als einzige der sechs britischen Bücherfresserfamilien über das Geheimnis der Herstellung verfügten, verschwunden sind.
Und so jagt Devon buchstäblich der Erlösung hinterher, quer durch Nordendland und bis nach Schottland hinein, verfolgt von Bücherfresser-Rittern, muss sich selbst jetzt noch dem Willen ihres Bruders Ramsay beugen und versucht dabei doch immer noch, ihr eigenes Ding durchzuziehen und alle Seiten gleichermaßen zu hintergehen. Und dann ist da noch Hester, mit der sich zwar eine Romanze anbahnt, die aber auch auf der Liste der zu hintergehenden Leute steht … Es ist nicht einfach für Devon, aber sie hat eben keine Wahl. Noch nicht mal zwischen Pest und Cholera. Nur ist es gerade diese Alternativlosigkeit, die das Buch für mich über weite Strecken zäh gemacht hat, eine Geradlinigkeit, die nur ein Ziel zu kennen scheint: den Abgrund, in den Devon sehenden Auges rennt, die Leserschaft im Schlepptau.
Dabei macht die Autorin Dean, deren Debütroman The Book Eaters ist, vieles richtig. Die Psychologie der Figuren ist interessant und vielschichtig, auch wenn niemand jetzt wirklich sympathisch angelegt ist. Der Weltenbau ist stark, die Epoche greifbar – es hat seine Gründe, dass die Geschichte Anfang des Jahrtausends spielt, denn mit der Existenz von Smartphones würde vieles nicht mehr funktionieren, während herkömmliche Handys eine nützliche Rolle spielen – und ich habe mich vor allem über Newcastle als Setting gefreut, wo ich 1998, also gar nicht so lang, bevor das Buch spielt, einen schönen Aufenthalt hatte. Auch die Gegend um Alnwick herum, nahe der schottischen Grenze, war ein schönes Wiedersehen, und die Roadmovie-Elemente des Buches gehörten zu den teilen, die mir am besten gefallen haben, erinnerten sie mich doch an meine eigenen Interrailtouren. Nur dass ich nie aus einem Zug vor bewaffneten Rittern fliehen musste.
An anderen Stellen hatte ich das Gefühl, Dean Sachen aus den Augen verloren oder nicht ganz durchdacht hat. Cai leidet unter Ekzemen – von denen später keine Rede mehr ist – und genauso spielt Devons Alkoholismus ab einem gewissen Punkt der Handlung keinerlei Rolle mehr, als würde es ausreichen, einmal tüchtig in Lebensgefahr zu geraten, um eine lebensbestimmende Sucht abzuschütteln und nie wieder einen Gedanken daran zu verschwenden. Vor allem das Bücherfressen selbst bleibt hinter seinen Kapazitäten zurück – kaum jemals greifen die Figuren gezielt nach Büchern, um sich weiterzubilden und nützliches Wissen zu erwerben, bis auf eine Szene, in der Devon eine Tabelle mit Morsezeichen futtert, um sich danach mit Morsesignalen verständigen zu können, und der Tatsache, dass sie den Eisenbahnfahrplan auswendig kennt, weil sie ihn mal gegessen hat. Aber da wäre so viel mehr drin gewesen, hätte man so viel mehr draus machen können, und so bleiben die gegessenen Bücher doch nur schnelle Snacks ohne literarischen Nährwert.
Wofür ich Dean aber dankbar bin, ist, dass sie mich mit einem Märchen bekanntgemacht hat, von dem ich noch nie gehört habe und das ich jetzt unbedingt einmal lesen möchte: die Geschichte von Phototen und Nycteris, The Day Boy and Night Girl, von George Macdonald – das klingt wie eine schöne, philosophische Geschichte, hat mich – zumindest in der Zusammenfassung – ans Platons Höhlengleichnis, das ich sehr liebe, erinnert, und jetzt hätte ich gern eine schön illustrierte Ausgabe davon. Aber diese Geschichte ist die einzige von Devos Speiseplan, die in der Handlung der Book Eaters eine Rolle spielt – da hätte ich mir wirklich gewünscht, dass mehr der Geschichten und Märchen, die sie im Laufe ihres Lebens gegessen hat, später noch einmal relevant werden.
So hinterlässt The Book Eaters einen tendenziell bitteren Nachgeschmack. In seiner Summe hat mir das Buch gefallen, aber die einzelnen Elemente waren doch eher schwer bekömmlich. Es endet abrupt und ein bisschen zu überhastet nach einem unnötig langen und brutalen Showdown – tatsächlich würde ich das nicht mal als richtiges Ende bezeichnen, das Buch reißt einfach ab, und das war’s dann. Zwar ist da das allermeiste erledigt, alle Schurken besiegt, und doch bleibt es unbefriedigend, dass die Geschichte sich nicht die Zeit nimmt, zur Ruhe zu kommen, eine Entspannung anzubieten, die ich nach der aufreibenden Handlung nötig gehabt hätte.
Positiv ist der Umgang Deans – und ihrer Figuren – mit queeren Themen. Die Romanze zwischen Devon und Hester wirkt nicht erzwungen oder aufgedrückt, auch wenn sie selten wirklich romantisch wird, und eine andere Figur ist, ebenfalls ziemlich selbstverständlich und unverkrampft, asexuell, wobei ich höchstens hinterfrage, wie viele Leute sich bereits Ende der Neunzigerjahre als asexuell definiert haben, bevor das ein größeres Thema geworden ist – das heißt nicht, dass 1997 niemand asexuell war, es war nur nichts, worüber irgendjemand gesprochen hätte. Aber da der betreffende Charakter ein Wörterbuch gegessen hat, ist zumindest der Begriff ihm geläufig, und dann kann er sich natürlich darin wiederfinden zu einem Zeitpunkt, als es noch kein allgemeines Bewusstsein für Asexualität gab.
Normalerweise beende ich eine Rezension mit der Feststellung, ob ich ein Buch weiterempfehle oder nicht, aber hier bin ich mir seltsam unsicher. Die fehlenden Content Notes sind da ein Thema – ich fühle mich, als ob ich vor diesem Buch warnen müsste, ehe ich es weiterempfehlen kann. So vieles passiert in diesem Buch, das mir wirklich aufgestoßen ist – psychische und körperliche Gewalt in der Ehe; die erwähnte Frauenfeindlichkeit; Babys, die zu Schaden kommen … Man braucht ein dickes Fell für dieses Buch und darf es doch zugleich nicht haben, denn es ist nicht geschrieben worden, um an einem abzuperlen, weiter im Thema, nächstes Buch: Es will verstören, es will aufrütteln, und doch macht es sich irgendwie zu wenig Gedanken, was es dabei mit seinen Leser:innen macht. Darum möchte ich doch eine, verhaltene, Empfehlung aussprechen. Aber seid gewarnt, dass dieses Buch wirklich nicht jedem, und nicht immer, schmecken wird.