Dark Academia-Romane waren der heiße Scheiß des vergangenen Jahres. Das Genre schien plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein: Bücher, die in ehrwürdigen Akademien, an exklusiven Instituten spielten, wo es Mysteriöses mit und ohne phantastische Elemente zu erleben galt, integriert in den studentischen Alltag – diese Bücher sind 2023 einfach durch die Decke gegangen, und auch dieses Jahr sind sie noch sehr erfolgreich. So plötzlich schossen diese Romane aus dem Boden, dass sie quasi über Nacht ihr eigenes Genre bildeten, aber tatsächlich sind diese Bücher nicht aus dem Nichts gekommen. Ich wüsste nicht, wo ich das Buch, das ich gerade beendet habe, einsortieren sollte, wenn nicht unter Dark Academia, und dabei ist es bereits 2018 erschienen.
Vielleicht habe ich es hier mit dem Patient Zero des Genres zu tun? Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie einen anderen Dark Academia-Roman gelesen. Und auch für Truly Devious habe ich mehr als einen Anlauf gebraucht. Gekauft habe ich es mir bereits 2020, als ich während des Lockdowns versuchen wollte, wieder mehr zu lesen, aber ich hatte irgendwie gedacht, das Buch hätte phantastische Elemente, war enttäuscht, als die fehlten, und gab die Lektüre nach gut hundert Seiten wieder dran. Die nächsten Jahre verbrachte Truly Devious am Fuß eines langsam wachsenden Stapels auf dem Fußboden neben meinem Bett, bis ich wieder Lust darauf bekam, es noch noch einmal von vorne anfing, und diesmal auch beendete – und was mich vor vier Jahren nicht überzeugen konnte, hat mir jetzt doch so gut gefallen, dass ich auch die weiteren Bände der Reihe lesen möchte. Oder, je nachdem, wie man es betrachtet, lesen muss.
Wenn man das Dark Academia-label, das es 2018 in der Form noch nicht gab, ignoriert, handelt es sich bei dem Buch um einen Krimi. Und als solches befindet es sich in guter Gesellschaft: Schon Dorothy Sayers Aufruhr in Oxford spielte 1935 an einer Hochschule, bereits 1931 besuchte Margery Allinghams Albert Campion in Polizei am Grab sein altes College, Elizabeth Georges Auf Ehre und Gewissen nimmt uns 1990 mit in ein englisches Eliteinternat, und bestimmt gibt es noch Dutzende weiterer klassischer Krimis mit akademischem Setting. Und da ist Truly Devious in guter Gesellschaft. Auf zwei Zeitebenen werden wir mitgenommen in die Ellingham Academy, wo im Jahr 1936 Frau und Tochter des Direktors entführt werden und in der Gegenwart Schülerin Stevie ihrer Leidenschaft für True Crime näherkommt, als ihr letztlich lieb sein kann.
Die Ellingham Academy, gelegen in den Bergen von Vermont, ist ein Internat für Jugendliche mit herausragenden Talenten und Begabungen – nichts Übernatürliches, sondern besondere Künstlerische, naturwissenschaftliche, literarische Leistungen bringen die Schüler:innen dorthin. Die Schule ist kostenlos, finanziert aus Stifter Ellinghams Privatvermögen, das offenbar selbst die horrenden Lösegeldzahlungen (zweihunderttausend Dollar im Jahr 1936 entsprechen heute gut und gern viereinhalb Millionen) ausreichend überstanden hat. Der Entführungsfall wurde niemals aufgeklärt – Ellinghams Gattin sowie eine Schülerin wurden getötet, die Tochter Alice niemals gefunden – und Stevie kommt an die Schule mit dem erklärten Ziel, diesen Cold Case, von dem sie regelrecht besessen ist, aufzuklären. Drunter gedenkt sie es nicht zu tun – aber als sie plötzlich einen ganz frischen, noch längst nicht kalten, Toten vor sich liegen hat, ändert das auf einen Schlag alles.
Ich kann nachvollziehen, warum ich vor vier Jahren die Lektüre abgebrochen habe. Das Buch kommt nur langsam in Fahrt. Während der historische Fall, präsentiert durch die wechselnden Perspektiven verschiedener Beteiligter, in seinen Rückblenden schnell auf den Tisch kommt, lässt sich die Gegenwartshandlung Zeit. Kapitellang wird eine Figur nach der anderen eingeführt, Schüler:innen und Lehrkräfte der Akademie, und über das Kennenlernen hinaus passiert wirklich wenig. Das halbe Buch ist rum, bis Stevie über eine Leiche stolpert, und bis dahin haben wir vor allem schulische Interaktion und Teenagerdrama erlebt. Das, worauf ich wirklich gehofft hatte – die Cold Case-Ermittlungen – beschränkten sich da auf ein paar Hypothesen, die Besichtigung der Tatorte, und Stevies beeindruckende Sammlung von Dokumenten zum Fall. Es war nicht das, worauf ich gehofft hatte.
Ich hätte gern Stevies Wissensstand geteilt – nicht mehr, nicht weniger. Aber dadurch, dass der historische Fall nicht nur in Vernehmungsprotokollen, sondern aus wechselnden Perspektiven potenzieller Verdächtiger erlebt wird, weiß ich letztlich mehr, als ich in einem Krimi zum Miträtseln wissen möchte; Dinge, die nicht in den Ermittlungsakten stehen und die Stevie darum nicht wissen und, da alle Beteiligten tot sind, wohl auch niemals herausfinden kann. Dafür kommen in der Gegenwart zu wenig neue Erkenntnisse ans Tageslicht. Und auch wenn ich nicht gern den Schluss eines Buches spoilern möchte, ist hier eine Warnung angebracht: Wer das Buch liest, um die Auflösung eines Cold Case mitzuverfolgen, wird enttäuscht, denn zumindest im ersten Band dieser Reihe wird der historische Fall nicht aufgeklärt.
Tatsächlich endet das Buch mit einem Cliffhänger, nichts, was man in einem Krimi erwarten sollte, auch der Gegenwarts-Fall ist da noch nicht wirklich zufriedenstellend aufgeklärt, und das abrupte Ende hat mich eher unbefriedigt zurückgelassen. Jetzt werde ich auch den zweiten Teil, The Vanishing Stair, lesen müssen, und ich hoffe, dass es da denn einen besseren Abschluss gibt und ich nicht alle Bände lesen muss, nur um zu erfahren, was mit Alice Ellingham passiert ist – auch der deutsche Titel des Buches, Ellingham Academy – Was geschah mit Alice?, klingt ja so, als ob die Frage auch in diesem Band eigentlich schon beantwortet werden müsste. Nur für den Krimiplot allein würde ich Truly Devious jetzt nicht unbedingt empfehlen. Da gibt es raffiniertere, besser konstruierte Plots, die vor allem dann auch innerhalb eines Buches aufgeklärt werden können. Aber trotzdem lohnt sich die Lektüre dieses Buches, oder gleich der ganzen Reihe – für die psychologischen Elemente.
In Truly Devious geht es nicht nur um einen oder mehrere Morde. Es geht auch, und vor allem, um die Frage, was ein Verbrechen, ein plötzlicher Todesfall, mit den Überlebenden macht. Wie die Schüler:innen um Stevie auf den Tod ihres Mitschülers reagieren, nimmt eine Menge Platz ein, und auch die Frage, wie es ist, wenn der langgehegte Wunsch, einmal eine Leiche zu finden, plötzlich Wirklichkeit wird. Ich habe in der letzten Zeit viele Bücher mit siebzehnjährigen Protagonistinnen gelesen, und in keiner habe ich mich so sehr wiederfinden können wie in Stevie. Auch ich bringe eine gewisse Besessenheit für ungelöste Verbrechen mit, habe schon als Schülerin Bücher über echte Fälle verschlungen (reißerisch aufgemacht, gefunden in der Stadtbücherei) und mich zwischen Gleichaltrigen immer wie ein Fremdköper gefülht. Stevie ist wahrscheinlich neurodivergent, sie leidet an Angstzuständen, die mir leider gerade nur zu vertraut erschienen, und ist unbeholfen im Umgang mit anderen, erst recht in Liebesdingen – sie handelt nicht immer rationell, aber immer überzeugend.
Auch die anderen Figuren des Buches – und das sind ziemlich viele – haben mir gefallen. Sie sind nicht immer sympathisch, aber allesamt plausibel, vom Jungautor mit Schreibblockade über den Youtube-Schönling bis hin zur nerdigen Bastlerin – und bis hin zur Erkenntnis, dass nur weil die Ellingham Acedemy eine Schule ist für Jugendliche, die alle ein bisschen anders sind, es oft doch nicht das gleiche Anders ist wie man selbst. Sie sind sich oft fremd, einander und auch selbst, und von mir aus hätte es den zeitgenössischen Todesfall gar nicht gebraucht, hätte ich einfach gern erlebt, wie diese Jugendlichen miteinander interagieren, wie sie lernen, die Fallstricke des Erwachsenwerdens zu navigieren, während nach und nach der historische Fall aufgerollt wird.
Natürlich ist es logisch, dass der Cold Case tatsächlich nicht in diesem Buch gelöst wird. So einfach, wie uns die von mir heiß geliebte Krimiserie Cold Case glauben lassen wollte, ist das nicht mit den ungelösten Fällen – da reicht nicht eine neue Perspektive, ein unbändiger Wille, um nach über achtzig Jahren einen Mörder zu überführen, und die meisten dieser Fälle lassen sich nach so langer Zeit nie zu 100% aufklären, es gibt nur Theorien, von denen manche schlüssiger sind als andere, aber ohne DNA fehlen wichtige Beweise, und ohne die Möglichkeit, einen Täter rechtskräftig zu Verurteilen, bleibt es bei »unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils«. Das sollte ich Maureen Johnson also durchaus anrechnen, dass sie auch hier realistisch bleibt.
Nur, ich will nicht nur Realismus, wenn ich einen Krimi lese, ich will auch unterhalten werden, ich will die Aufklärung eines Falles verfolgen, ich will mehr, als ich im Websleuths-Forum an Rätselraten und Hypothesen geboten bekomme. Die Ellingham-Entführung ist ein fiktiver Fall und sollte auch wie ein solcher behandelt werden, sprich aufgeklärt. Ich habe absichtlich nicht die Klappentexte der weiteren Bände der Reihe gelesen, ich will nicht gespoilert werden, wie lang Stevie an diesem einen historischen Fall herumkaut und wie viele Gegenwarts-Morde sie noch wird aufklären müssen. Erschienen sind bis jetzt fünf Bücher, die Autorin scheint bestätigt zu haben, dass noch Buch sechs und sieben erscheinen werden, und wenn in jedem davon die Ellingham-Academy von einem neuen Verbrechen heimgesucht werden sollte, ist der Realismus wirklich weg – so viele Morde können an einem abgelegenen Internat mit überschaubarer Studierendenzahl nun wirklich nicht passieren, um das noch glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Aber was soll stattdessen in den übrigen Bänden passieren? Will ich sieben Bände, von denen zweie noch nicht mal angekündigt, geschweige denn erschienen sind, lang den einen historischen Fall verfolgen? Oder drehen sich die späteren Teile dann nur noch um die Schul- und Liebesdramen an der Ellingham Academy? Ich lasse das auf mich zukommen. Lese jetzt erst mal den zweiten Band, hoffe, dass der einer Aufklärung näherkommt, und schaue dann weiter. Von manchen Reihen kann man nicht genug bekommen, während man bei anderen hofft, die Autor:innen hätten rechtzeitig den Absprung geschafft. Man kann eine Idee auch zu Tode reiten, und ich denke, gerade Dark Academia ist da ziemlich anfällig für – ich weiß einfach nicht, wie viel Varianz das Thema mit sich bringt. Aber zumindest dieser erste Band, Truly Devious, hat mir gut gefallen und macht, erst einmal, Lust auf mehr.