Samantha Sotto Yambao: Water Moon

In den letzten Jahren sind sie inflationär aus dem Boden gesprossen: Kuschelige Romane über kuschelige kleine Läden, seien es Buchhandlungen, Wollgeschäfte, Blumenläden … Es stößt mir jedes Mal auf, wenn Leute dann voller romantischer Sehnsucht nach kleinen, inhabergeführten Geschäften diese Bücher dann bei Amazon bestellen, dem Monopolisten, der am Sterben dieser kleinen Lädchen mit den größten Anteil hatte. Da bin ich persönlich vielleicht bitterer als andere, weil ich mal Buchhändler gelernt habe und zu viele Läden, einschließlich dem, in dem ich meine Ausbildung gemacht habe, habe verschwinden sehen. Und bin selbst nicht unschuldig daran, ich kaufe immer noch zu viel übers Internet und zu wenig über unsere supernette kleine Buchhandlung hier im Ort – die übrigens auch einen gutgeführten Webshop hat.

Jedenfalls hatte ich bislang wenig Impetus, auch nur einen dieser romantisierten Romane zu lesen, und als ich den ersten Blurb las für die Januar-Illumicrate-Box, über ein verstecktes kleines Pfandleihhaus, war mein erster Gedanke »Oh nein, nicht auch das noch!« Aber trotz meiner ersten Abneigung freute ich mich doch auf die Box, sie ist jeden Monat ein kleines Highlight für mich, und ich habe über sie schon so tolle Bücher gefunden wie Hammajang Luck oder Until We Shatter, die ich ohne nie gelesen hätte. Während die Bücher aus der Locked Library steigen und fallen, hatte ich noch nicht ein Illumicrate-Buch, das mir nicht gefallen hätte. Und was ich dann über Water Moon las, klang deutlich weniger nach Das schnuckelige Woll-Kontor, sondern wie ein echt schönes Buch, denn in dem versteckten Pfandleihaus verpfänden die Leute nicht irgendwelche Kleinodien oder alten Schrott, sondern die Entscheidungen, die sie im Leben am meisten bereuen.

Water Moon spielt auch nicht auf einem Inselchen irgendwo hinterm Deich, sondern in den geschäftigen Straßen Tokios – oder zumindest glaubte ich das nach den ersten paar Seiten. Das Pfandhaus ist nicht in den Gelben Seiten zu finden oder einfach so zu betreten – nur diejenigen, die dazu bestimmt sind, wundern sich, nicht in dem berühtem Ramen-Restaurant gelandet zu sein, sondern sich leicht desorientiert vor Ishikawa Toshios Ladentheke – doch er bietet ihnen freundlich einen Sitzplatz an, eine Tasse Tee und ein offenes Ohr, und befreit sie dann von der Last einer Fehlentscheidung, die sie mit sich herumtragen. Die Kunden gehen erleichtert von dannen, und Toshio packt die Entscheidung in seinen Tresorraum.

Nur ist es an der Zeit, dass Toshio sich zur Ruhe setzen und den Laden seiner Tochter Hana überschreiben will. Seine Frau, Hanas Mutter, ist lange von ihnen gegangen und ist ein Thema, das die beiden vermeiden, aber Hana, auch wenn sie erst Anfang zwanzig ist, ist bereit, das Erbe ihrer Eltern anzutreten, wie es von Anfang an für sie vorbestimmt war. Nur, dass an ihrem ersten Tag als Pfandhausbesitzerin der Vater spurlos verschwunden und die Ladeneinrichtung in Trümmern liegt – und in der offenen Tür erscheint ein junger Mann, der da augenscheinlich nichts verloren hat, denn ihn plagen keine Fehlentscheidungen, er ist nicht da, um sich helfen zu lassen, sondern bietet Hana selbstlos seine eigene Hilfe an –

Und dann hat es sich erstmal mit Tokio. Denn, das erfährt man sehr früh, das Pfandhaus und seine Betreiber sind Teil einer anderen Welt, in der die Dinge nicht immer sind, wie sie erscheinen und den Bewohnern ihr Schicksal auf die Haut tätowiert wird, ein Lebenspfad, von dem sie niemals abweichen dürfen. Und schon befinden sich Hana und Keishin auf einer gefährlichen Hatz quer durch ein wundersames Land, in dem Origami zum Leben erwacht und man am schnellsten reisen kann, indem man auf auf ein Gerücht aufspringt. Sie folgen Hanas Vater und dem Geheimnis um das Verschwinden von Hanas Mutter, immer verfolgt von den Shiikuin, den maskierten Wächtern der Welt, die seinerzeit auch Hanas Mutter zum Tode verurteilt hatten, nachdem die das Tabu gebrochen hatte, eine Entscheidung aus dem Tresor zu stehlen …

Das klang dann deutlich mehr nach einem Buch für mich! Und weil ich mit meiner tollen Autorenkollegin Leann Porter, die auch die Illumicrate-Box im Abo hat, abgesprochen hatte, dass wir die so erhaltenen Bücher nicht nur auf einem ebenso hohen wie schönen Stapel sammeln wollen, sondern sie nach Möglichkeit direkt nach Erhalt lesen, habe ich mich postwendend und voll Vorfreude an die Lektüre gemacht. Aber es war seltsam: Obwohl Water Moon eigentlich alles hat, was ein Buch braucht, um mich zu begeistern – eine faszinierende, abwechslungreiche Welt, eine vielschichtige Erzählung, philosophische Untertöne – bin ich mit dem Buch irgendwie nie warm geworden. Es ist gut geschrieben, hat wunderschöne, poetische Momente, aber es war immer eine Distanz zwischen uns, und das Lesen hat sich weniger nach Liebe angefühlt als mehr wie eine Pflichtaufgabe,

Dabei kann ich nur eine Sache nennen, die mich an Water Moon wirklich gestört hat – das ist dafür dann aber eine realtiv dicke: Die Beziehung zwischen Hana und Keishin hat mich absolut nicht überzeugen können. Er, der Kernphysiker, auf dem Weg zu seinen Neutrinos falsch abgebogen und in Hanas Pfandhaus gelandet, soll sympathisch und hilfreich rüberkommen, dabei verhält er sich ihr gegenüber bald schon so kontrollierend, dass ich ihn gegen die Wand hätte klatschen mögen. Die beiden sind noch lang kein Paar, da stört er sich schon daran, dass sie männliche Freunde hat, reagiert eifersüchtig auf den Origamimeister Haruto, der selbst mal eben sein Leben riskiert, um ihnen zu helfen, die Spur Toshios aufzunehmen – und vielleicht hat diese Abneidung gegen die Hauptfigur schon ausgereicht, um mich gegen dieses Buch einzunehmen.

Die andere Hauptfigur, Hana, erscheint mir da nicht so viel besser. Es mag an der Vorbestimmtheit ihres Lebens liegen, dass sie oft wirkt wie fremdgesteuert, nur reagiert statt zu agieren, und es ihr insgesamt an eigener Persönlichkeit zu mangeln scheint. Jedenfalls bin ich mit beiden nicht wirklich warmgeworden – ich mochte Haruto letztlich am meisten, aber der hat nur eine kleine Rolle, und ich fürchtete das halbe Buch über, er könnte ein tragisches Ende nehmen, damit Hana gänzlich frei sein könnte für Keishin. Überhaupt hatte ich eine ganze Reihe Theorien zu den Hintergründen der Geschichte und wie Keishins und Hanas Schicksal miteinander verknüpft sein könnte – aber wenn ich mich sonst freue, wenn meine Prophezeiungen mal nicht eintreffen und ein Buch mich überrascht, fand ich hier meine eigenen Wendungen jeweils besser als die Enthüllungen, die das Buch für mich vorgesehen hatte.

Vielleicht war mir auch ein bisschen zu viel Philosophie-Blah im Buch. So spannend das Thema »Vorbestimmtes Schicksal vs. Freier Wille« auch ist, so dringend nötig es ist zu hinterfragen, ob es eine gute Idee ist, traumatische Erinnerungen aufzugeben, statt sie aufzuarbeiten: Irgendwie wirkte das ganze philosophische Gerede, das wirklich viel Platz im Buch einnahm, zäh und bemüht. Dabei ist die Ironire des ganzen Konstrukts nicht an mir vorbeigegangen: Da ist Water Moon ein glühendes Plädoyer für Selbstbestimmung und die Macht der freien Entscheidungen – in einem Buch, dessen Figuren an den Plot gebunden sind und denen ihre Entscheidungen diktiert werden durch die übermächtige Autorin, und ich hätte mir an vielen Stellen gewünscht, Hana und Keishin könnten einfach die vierte Wand durchbrechen und nicht nur aus Hanas Parallelwelt entkommen, sondern dem Buch an sich, und leere Seiten zurücklassen, die die Lesenden dann selbst zu Origamikranichen falten können.

Aber den Gefallen hat das Buch mir nicht getan. Episodenhaft springt der Plot von einem wundersamen Schauplatz zum nächsten, wobei die Traverse meistens durch den Sprung in eine Pfütze von statten geht – und dadurch keine sauberen, geschmeidigen Übergänge entstehen, sondern das Gefühl von etwas unzusammenhängendem, zerhackten. So toll die Elemente dieser Welt auch sind, so viele schöne Ideen Samantha Sotto Yambao da auch hatte, vom Nachtmarkt in den Wolken über die Teestube im Baum bis hin zu einem Museum der verpassten Chancen, wirkt das Ergebnis doch nicht wie ein Ganzes, sondern wie diverse zusammengekittete Fragmente – nicht wie bei der im Buch oft zitierten Kintsugi-Technik mit goldenen Nähten, die einen ehedem zerstörten Gegenstand schöner als neu erscheinen lassen, sondern mit losem Drahtgeflecht, das die Teile nur gerade so eben zusammenhält.

Stellenweise erinnerte mich das Buch so an »Through the Looking Glass and What Alice Found There«, wo ebenso sprunghaft Schauplätze gewechselt werden und das Ergebnis zerfasert erscheint. Viele, viele Ideen stecken da drin – aber vielleicht hätte die Autorin stellenweise den Rotstift ansetzen müssen, einzelne Elemente rausnehmen, damit den verbleibenden mehr Kraft zum Scheinen bleibt. So ist alles toll, alles neu, alles atemberaubend – man hat aber zwischendurch kaum Zeit, einen Ort auf sich wirken zu lassen, schon wird zum nächsten gehetzt, und indem Hana und Keishin immer gleich da sind und kaum jemals unterwegs, ist das ein Kaleidoskop, bei dem einem schwindelig werden kann, aber nicht auf gute Weise, mehr wie eine Kirmes, bei der man von einem Fahrgeschäft ins nächste steigt, bis die Zuckerwatte wieder hochkommt.

Aber ich habe nicht nur Sachen auszusetzen an Water Moon. Vieles daran, wie das japanische Thema eingebunden worden ist, hat mir gefallen. In der letzten Zeit hatte ich es oft mit Büchern zu tun, die mich mit fremdsprachigen Begriffen totgeschmissen haben, ohne mir einen Index zu bieten – hier wird das geschickter gelöst: Auf einen verwendeten japanischen Begriff hin folgt immer ein kurzer Einschub, in dem erklärt wird, um was es sich dabei handelt, und auch wenn ich verschiedene Sachen aus meiner Anime-Phase noch kannte, war ich doch froh über diese kleine Hilfestellung. Teilweise kamen mir die japanischen Elemente allerdings zu dick aufgetragen vor, als müsse das Buch mir auf jeder Seite neu beweisen, wie gut die Autorin ihr Setting recherchiert hat – und im Verlauf des Buches habe ich mich mehr und mehr gefragt, warum sie das Buch nicht in ihrer philippinischen Heimat angesiedelt hat.

Nicht, dass zwangsweise aus Japan kommen muss, um ein Buch dort spielen zu lassen – aber ich habe vorher noch nie ein Buch von einer philippinischen Autorin gelesen und wäre neugierig auf eine Darstellung dieser Kultur, mit der ich bis jetzt nur wenige Berührungspunkte hatte, gewesen. Aber ich verstehe, dass, wenn ihr die Idee in den Gassen Kyotos gekommen ist, sie ein japanisches Setting haben wollte, und sie hatte immerhin eine japanische Freundin, die Water Moon mit Hinblick auf seine Authentizität betagelesen hat. So denke ich, dass vor allem Fans der Studio Ghibli-Filme Spaß an diesem Buch haben könnten, und ich kann mir sogar eine Anime-Verfilmung davon gut vorstellen.

Ich denke auch, dass ich das Buch bedenkenlos weiterempfehlen kann. Nur, weil mich nicht alles überzeugen konnte, macht es Water Moon nicht zu einem schlechten Buch. Und auch wenn mich die Auflösung nicht komplett abgeholt hat, war das kein schlechtes Ende – es hatte eine angenehm zarte Sprödheit, hat mir endlich einmal Zeit zum Durchatmen gegeben, und war ein Ende, das gut zum Buch passte. Nicht das Ende, das ich diesem Buch gegeben hätte – aber wie es relativ früh im Buch schon so schön heißt, sind das, was man will, und das, was man braucht, oft zwei entgegengesetzte Dinge.

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