Über das Buch Who’s Who in Children’s Literature kam ich auf die britische Autorin Rumer Godden – vertreten mit The Dolls’ House, Geschichte einer Puppenfamilie. Dieses Buch besitze ich zwar nicht, wohl aber ein anderes von Godden, in dem es ebenfalls um Puppen geht – und darum habe ich Anlass und Grippe genutzt und mich noch einmal über Das verbotene Haus hergemacht. Es ist wieder eines von diesen Büchern, die mit seit meiner Kindheit begleiten, und damals wie heute hat es einen großen Eindruck auf mich hinterlassen.
Als Kind war ich immer, bestrebt, mich von meiner jüngeren Schwester zu unterscheiden, die wilde, wagemutige. Dass ich im Kindergarten noch mit Puppen gespielt habe, stimmt, allerdings war das mehr das ritualisierte Ankleiden und Zu-Bett-Bringen einer bestimmten Puppe, das ich zusammen mit verschiedenen anderen ritualisierten Aufgaben hinter mich bringen musste – ein bestimmtes Bild malen, ein bestimmtes Muster stecken – bevor ich mit dem eigentlichen Spielen anfangen konnte. Zuhause fristeten meine Puppen mehr ein Schattendasein – ich mochte sie, weil sie schön waren, doch ich spielte nicht mit ihnen. Vielleicht lag es daran, dass meine Mutter damals Puppen machte – wenn man dem ganzen Herstellungsprozess beiwohnen kann, ist das eine sehr entmystifizierende Sache, und es wäre mir nicht im Traum eingefallen, eine Puppe für ein lebendes, fühlendes Wesen zu halten. Warum also so tun als ob? Geschichten erleben konnte ich auch in meinem Kopf, dafür brauchte ich keine Puppen, und wenn es darum ging, kleine Leute zu wickeln – dafür hatte ich Geschwister. Ich war kein Puppenkind. Bis ich, vermutlich neun Jahre alt, dieses Buch las. Und nachdem ich auch dem Rest der Familie davon vorgeschwärmt hatte, mussten sie dann mit mir und allen Puppen, die in unserem Haus aufzutreiben waren, das japanische Puppenfest veranstalten. Das Puppenfest kann man nur einmal im Jahr feiern, und so schwand mein Interesse an Puppen danach wieder rapide – ich hatte ein Kinderbuch gelesen, nicht mich einer Hirnwäsche unterzogen. Und doch muss es ein bemerkenswertes Buch sein, um ein wildes kleines Mädchen zu einer Puppenliebhaberin zu machen, und sei es nur für eine Woche.
Die beiden Mädchen in Das verbotene Haus – das ich mir sicherlich nicht wegen der Aussicht auf eine Puppengeschichte ausgeliehen hatte, sondern um hinter das Geheimnis dieses Hauses zu kommen – erinnern auf den ersten Blick ein wenig an meine Schwester und mich. Da ist die ruhige, in sich gekehrte Nona, deren zwei japanische Püppchen in einem authentischen japanischen Haus wohnen und von der liebevollen Puppenmutter mit kleinen Kimonos und Teezeremonien umsorgt werden. Und da ist ihre extrovertierte Cousine Belinda, die lieber auf Bäume klettert und mit der ganzen Welt befreundet ist. Ein früheres Buch Goddens, Miss Happiness and Miss Flower aus dem Jahr 1961, erzählt die Vorgeschichte dieser beiden Mädchen, in der Nona aus Indien im Haus ihrer englischen Verwandten vereinsamt, bis sie zwei Puppen bekommt, die noch viel einsamer und fremder sind als sie… Leider wurde diese Geschichte nie ins Deutsche übersetzt, und so blieb mir nur die Fortsetzung von 1963, um die beiden Mädchen und ihre Puppen kennenzulernen. In Little Plum – wie beim ersten Buch, so ist im englischen Original auch hier der Name einer Puppe titelgebend – ist Nona selbst nur noch eine Nebenfigur, das Buch kreist ganz um Belinda und ihre Widersacherin Gem.
Diese erfüllt alle Klischees des Stereotypus ‘Armes Reiches Mädchen’: Geld wie Heu hat sie, doch auch eine sieche Mutter (rekonvaleszent nach einer Kinderlähmung), eine hartherzige Tante und einen Vater, der beruflich ständig nach Asien reisen muss – und dann auch noch ein Nachbarsmädchen wie Belinda. Wirklich, Gem kann einem nur leidtun: Denn nachdem Belinda entdeckt hat, dass auch Gem eine japanische Puppe besitzt, mit der jedoch niemals gespielt wird, beschließt Belinda, einzugreifen und das eigenmächtig Pfläumchen genannte Püppchen zu retten. Dabei schreckt sie auch nicht davor zurück, die arme Nona für sich arbeiten zu lassen: Die muss nun japanische Fußbeutel und Bettzeug nähen, Sonnenschirme basteln und eine Reistafel zubereiten – und die Art, wie Belinda diese Gaben dann an Gem weiterleitet, nämlich mit immer beleidigender werdenden Anschreiben, haben mich zum Heulen gebracht. Denn so sehr einem schon Gem leidtun kann – die sich ja immerhin arrogant verhält und der man darum beinahe jemanden wünschen mag, der ihr Paroli bietet: Die arme ausgenutzte Nona ist mir nun wirklich zu Herzen gegangen.
Achtlos ignoriert Belinda, auf welchen Gefühlen sie herumtrampelt, und dass sie eine Heuchlerin ist, sieht sie nicht: Während sie verlangt, dass Gem ihrer Puppe mehr Aufmerksamkeit schenkt, vernachlässigt sie ihre eigenen Puppen mindestens im gleichen Maße. Und dass sie am Ende dann natürlich in Gem eine treue Freundin findet, nachdem die kranke Mutter zurückgekehrt und die garstige Tante in die Flucht geschlagen ist, tröstet mich immer noch nicht darüber hinweg, dass alles auf dem Rücken der armen Nona ausgetragen wurde: Und ich muss darauf hinweisen, dass allen ersten Eindrücken zum Trotz Belinda kein bisschen so ist wie ich. Und auch Nona ist nicht wie meine Schwester – denn dann hätte sie sich nie und nimmer all das gefallen und derart in die Opferrolle drängen lassen.
Trotzdem, es gibt solche Leute wie Belinda, und die Autorin geht auch hart mit ihrer Art ins Gericht, schürt wenig Sympathie für ihre eigene Hauptperson und gönnt ihr auch zum Schluss nur einen kleinen Hauch von Einsicht – schlechtes Gewissen, das schnell wieder vergeht, und man mag nicht glauben, dass Belinda sich noch viel ändern wird. Aber bei aller Kritik, welche die Autorin an ihrer Heldin übt, ist es nicht die selbstbewusste Wildheit und das unmädchenhafte Verhalten, das sie ihr zum Vorwurf macht. Und ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass die Zeit, aus der dieses Buch stammt, vielleicht heute falsch eingeschätzt werden, was den literarischen Umgang mit den althergebrachten Geschlechterbildern angeht. Zunehmend finde ich in Kinderbüchern aus den fünfziger und sechziger Jahren Mädchenfiguren, die sich nicht damit begnügen, einmal eine gute Hausfrau sein zu wollen – die wenig zimperlich auf Bäumen herumklettern, ohne dass der erhobene Zeigefinger mahnt: Ein braves Mädchen tut so etwas nicht…
Rumer Godden neben vielen Erwachsenenbüchern eine Reihe von Kinderbüchern über Puppen geschrieben, die meisten davon sogar aus Sicht der Puppen selbst. In Das verbotene Haus, in dem die Puppen nur der Aufhängepunkt sind, zeigt sie sich vor allem als sehr gute Menschenkennerin, und wenn man bereit ist, das süßliche Ende in Kauf zu nehmen – wenigstens ist die kranke Mutter am Ende nicht auch noch gänzlich genesen! – bekommt man ein anrührendes kleines Buch, das auch heute noch zu berühren vermag. Auch, wenn es mich heute anders berührt als früher: Diesmal habe ich nicht alle Puppen zusammengeschleppt habe, um mit ihnen das japanische Puppenfest zu feiern: Diesmal handelte dieses Buch für mich nur von Menschen.