Wenn Bücher aus einer anderen Sprache übersetzt werden, setzen sie manchmal so weit über, dass sie dabei glatt über den Jordan gehen. Bei dem vorliegenden Buch ist dies der Fall – so etwas passiert nur allzu leicht, wenn (meistens nicht durch den Übersetzer selbst, sondern per Verlagsbeschluss) versucht wird, eine Geschichte ans neue Zielpublikum anzupassen. Und so war Nancy Drew, Kultfigur der amerikanischen Jugendbuchszene, dazu verdammt, eine deutsche Austauschstudentin mit Namen Susanne Langen zu werden.
Erst einmal bin ich ja selbst darauf hereingefallen, aber ich war auch erst zehn Jahre alt, als ich mir dieses Buch auf dem Pfarrfestflohmarkt kaufte, und ich war noch unschuldig und ahnte nicht, welche Freiheiten sich Verlage herauszunehmen bereit waren. Ich war nur erstaunt: Eine amerikanische Autorin – Carolyn Keene war ein Name, den ich schon mit zehn als eindeutig amerikanisch identifizierte: Anders als bei Berte Bratt verzichtete man hier darauf, neben der Hauptfigur gleich auch noch die Autorin umzunennen – schreibt Bücher über eine deutsche Heldin? Und die Amerikaner wollen so etwas lesen? Ja, das fiel mir auf, schon mit zehn Jahren, aber ich zog keine Schlüsse daraus – wie sollte ich auch? Stattdessen las ich mich durch ein gutes Halbdutzend Susanne-Langen-Abenteuer, wunderte mich zunehmend, dass ihr Austauschjahr nie vorüberging und sie auf alle Ewigkeit bei ihrem Onkel Peter (im Original: Nancys Vater, Carson Drew) wohnte und sie wohl gar keine Anstalten machte, jemals wieder in die Heimat zurückzukehren. Was mir auch auffiel war, wie langweilig diese Bücher doch eigentlich waren, verglichen mit den Abenteuern der Drei Fragezeichen. Und so verebbte dann meine Freundschaft mit Susanne Langen, die eigentlich Nancy Drew hieß.
Aber nun liege ich mit einer Virusgrippe im Bett, und zum einen verträgt man dann keine allzu schwere Kost, zum anderen macht das Fieber unberechenbar, und so kam es, dass ich tatsächlich noch einmal Die verborgene Treppe gelesen habe. Es gibt noch einen zweiten Grund, der ist literaturwissenschaftlicher und darf darum hier nicht unerwähnt bleiben: Nachdem ich kürzlich Das allerbeste Apfelmus gelesen habe und mir bei meinem Umzug in diesem Sommer viele Bücher in die Hände gefallen sind, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass ich sie besaß, habe ich mir das grandiose Werk Who’s Who in Children’s Literature vorgenommen, ein Nachschlagewerk bedeutender Gestalten aus der Kinderliteratur. Die Apfelmus-Betsy war dort, ganz wie erhofft (hätte sie nicht dringestanden – das Who-is-Who wäre im hintersten Winkel des Bücherregals verschwunden), und so blätterte ich weiter, las hier und dort und fand viele interessante Werke, die ich mir einmal zulegen muss – und ich fand Nancy Drew in The Hidden Staircase. Jetzt, mit so viel analytischem Verstand, wie 38.8°C Fieber es zulassen, habe ich das gute alte Buch noch einmal gelesen, weniger mit Hinblick auf das Geheimnisvolle Haus als mehr auf die Stellen, an denen die Übersetzung mehr getan hatte als nur zu übersetzen.
Nancy Drew ist Kult. Seit den Dreißiger Jahren erlebt sie ihre Abenteuer, allesamt veröffentlicht unter dem Kollektivpseudonym Carolyn Keene, und bis heute erscheinen jährlich neue Bände. Die Serie geht in die Hunderte und hat in den USA einen Bekanntheitsstatus wie hierzulande die Drei Fragezeichen – die wiederum zwar aus den USA stammen, dort jedoch längst untergegangen und unbekannt sind und seit gut fünfzehn Jahren vom deutschen Kosmos-Verlag weitergeführt werden. Die Parallelen gehen noch weiter, denn auch bei den Drei Fragezeichen bekamen die Helden für die deutsche Ausgabe zum Teil neue Namen, die sicher zum Erfolg einen Großteil beigetragen haben.
Und, um jetzt den Kreis endlich zu schließen, wurden die Cover der deutschen Drei-Fragezeichen-Bücher von der Künstlerin Aiga Rasch gestaltet – welche zuvor, damals noch unter dem Namen Aiga Naegele, schon eine andere Reihe von Jugendkrimis mit Titelbildern versehen hatte: Die Abenteuer der Susanne Langen. Und dieses von Aiga Rasch/Naegele gestaltete Cover war es schließlich auch, das auf dem Pfarrfestflohmarkt die Neugier einer Zehnjährigen weckte, die schon damals ein gesteigertes Interesse an Geheimnisvollen Häusern, Verborgenen Treppen und Geheimen Gängen aufbrachte… Die Welt ist ein Dorf. Heute habe ich, durch meine Recherchen, entdeckt, dass Aigas Mutter Lilo Rasch-Naegele ist, die 1948 eine Ausgabe von Alice im Wunderland illustriert hat, und ein Abgleich dieses Buches aus meiner Sammlung mit dem Cover der Verborgenen Treppe zeigt, dass die Tochter stilistisch maßgeblich von ihrer Mutter beeinflusst war. Kein so markantes Cover wie bei den Drei Fragezeichen, aber eines, das mir bis heute noch sehr gut gefällt.
Aber nun nichts mehr zum Cover, mehr zum Buch – da gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Denn die Geschichte ist so trivial, so vorhersehbar, so langweilig und langatmig, dass man sich nur schlecht vorstellen kann, wie sich die dazugehörige Serie in Amerika derartig lange halten konnte. Weder hat die junge Heldin, ob sie nun Nancy heißt oder Susanne (oder, wie diese von ihren amerikanischen Freunden genannt wird, Susan) Profil, noch ist irgendeine Figur in dem Buch etwas anderes, als sie auf den ersten Blick erscheint. Der schurkische Nathan Gomber muss schon als Schurke geboren worden sein, sonst hätten ihn seine Eltern nicht mit diesem Namen gestraft, denn den hat er schon im Original. Und im Original des Originals. Denn bevor ich es in die Hände bekam, hatte The Hidden Staircase nicht nur eine, sondern schon zwei Mutationen hinter sich.
Erstmals 1930 als zweiter Teil der Reihe erschienen, wurde der Stoff, zusammen mit einigen anderen frühen Bänden, nach dem anhaltenden Erfolg der Serie 1959 neu bearbeitet und der zeitgenössischen Entwicklung Nancys angepasst. Auch ließ man die Heldin nun nicht mehr mit Revolvern hantieren – eine Taschenlampe hat zu reichen, wenn man eine knarzenden, spinnwebenverhangene Geheimtreppe untersucht. Und diese Neubearbeitung war es dann auch, die dann ab Mitte/Ende der Sechziger Jahre für die deutsche Leserschaft, ohne nennenswerten Erfolg, übersetzt und bearbeitet wurde. Wirklich, das einzig interessante an diesem Buch ist die Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte!
Übrigens scheitern auch alle weiteren Versuche, die Abenteuer der Nancy Drew einem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Weder die Reihe Ein Fall für Barbie und Susan in den frühen Achtzigern, noch die späteren Mühen des Franz Schneider Verlags – immerhin jetzt endlich unter dem Namen Nancy Drew! – konnten einen dauerhaften Eindruck auf dem deutschen Buchmarkt hinterlassen, dessen Jugendkrimiszene unverändert von Dauerbrennern wie den Drei Fragezeichen oder TKKG wird. Auch der Kinofilm Nancy Drew, Girl Detective aus dem Jahr 2007 brachte es in Deutschland nur bis zur DVD-Veröffentlichung – aber das kann auch an den allenthalben schlechten Kritiken gelegen haben.
Es gibt Phänomene, die lassen sich eben einfach nicht übertragen. Und wer wie Nancy Drew mehr ein detektivisch ambitioniertes Modepüppchen ist, ohne aber mit nennenswerter Spannung und Qualität aufzuwarten, der hat es dabei noch ein bisschen schwerer. Es ist nicht schlimm, dass sie in Deutschland nie so wirklich Fuß fassen konnte, dafür muss man auch Susanne Langen keine Vorwürfe machen. Und so bleibt mir immerhin noch eine Sammlung von einem halben Dutzend mittelalter Jugendbücher mit hübsch gestalteten Covern.